Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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Wassilitsch trüge mir auf, dir graben zu helfen,« rief Wera ausbrechend.

      »Du wirst auch dabei zu tun bekommen. Wladimir Wassilitsch zählt auf dich.«

      »Hat er mit dir davon gesprochen?«

      »Ja, er fragte mich, wie du mit Boris Alexeiwitsch stündest.«

      »Und du sagtest ihm – –«

      »Ich sagte ihm, er hätte recht gehabt. Darauf fing er an zu lachen.«

      »Aber welchen Auftrag hat er für mich?« fragte Wera ungeduldig. »Was kann ich dabei tun?«

      »Du sollst mir Dynamit zutragen. Auch sollst du auf einen Beobachtungsposten gestellt werden; ich *glaube in der Anstalt, dem Palast Anna Pawlownas gegenüber. Du weißt, in dem Hause für sittlich verwahrloste Mädchen.«

      »Wie soll ich da hineinkommen?«

      »Dafür wird Wladimir Wassilitsch Sorge tragen, Er hat überall seine Mittel und Wege. Von den Zimmern des obersten Stockwerkes aus kann man in den Tanzsaal hineinsehen. Du sollst uns das Zeichen geben, wenn es Zeit ist. Ein wichtiger Posten. Wirst du es tun können?«

      »Ich werde alles tun können, was man mir aufträgt.«

      »Soll ich das Wladimir Wassilitsch sagen?«

      »Ja.«

      Einundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Anna Pawlowna hatte aufgehört, über sich selbst zu reflektieren. Sie lebte jetzt, wie tausend andere Damen der russischen Gesellschaft lebten, von einem Tag zum andern, von einer Zerstreuung zur andern. Und was das Seltsamste dabei war, sie lebte mit Genuß in dieser großen, glänzenden Gedankenlosigkeit. Überdies war sie durch ihre Verhältnisse mit Sascha und Boris eine gesellschaftliche Berühmtheit geworden. Ihre Schönheit stand in der Blüte und ihre Schönheit zu pflegen und bewundern zu lassen, beschäftigte sie im Augenblick derartig, daß sie für nichts anderes mehr einen Gedanken zu haben schien. Mit großer Kunst wußte sie Toilette zu machen. Sie erfand selbst ihre Kostüme und strengte dabei ihre ganze Einbildungskraft an.

      Bald sprach man denn auch von den Toiletten der Prinzessin, wie man einst von den Teeabenden der Fürstin gesprochen hatte. Diese neuen Toiletten Anna Pawlownas versetzten sogar die russische Gesellschaft in Aufregung. Die Männer bewunderten sie, die Damen skandalierten darüber und – ahmten ihr nach. Zuerst begnügte sich Anna Pawlowna damit, Boris Alexeiwitsch zu gefallen, der anfangs entschieden solcher Mittel bedurfte, um von der schönen Frau gefesselt zu werden. Aber sehr bald reizte es sie, auch auf andere Männer Eindruck zu machen. Seit ihrem großen Irrtum hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen und schien nichts anderes zu bezwecken, als möglichst schnell in den Abgrund zu stürzen. Sie wollte es mit offenen Augen tun, erhobenen Hauptes.

      Mit der Fürstin war sie von neuem sehr intim, doch hatte sich das Verhältnis der beiden Frauen zueinander vollständig verändert; alle Scheu der Fürstin vor ihrer schönen, majestätischen Cousine war verschwunden, Sie behandelte dieselbe bisweilen beinahe patronisierend. Anna Pawlowna zuckte dazu die Achseln, biß sich auf die Lippen, ließ es sich indessen doch gefallen, als die Vertraute der lächerlichsten und – galantesten Modedame Moskaus zu gelten.

      Sobald sämtliche vornehmen Familien vom Lande zurückgekehrt waren, richtete die Fürstin wieder ihre Teeabende ein, unter einem größeren Zudrange denn je. Die seltsamsten Gestalten erschienen in dem Salon, um in dessen Dämmerung vollständig zu verschwinden. Die Unterhaltungen wurden so leise geführt, daß das Geräusch des kochenden Samowars das Flüstern der Stimmen häufig übertönte. Die Fürstin in ihrer Robe aus weißer Crêpe de Chine leuchtete wie eine Marmorstatue durch das Dunkel, doch war sie an ihren Teeabenden wie gewöhnlich im höchsten Grade nervös, denn wie gewöhnlich wartete sie auf den einen oder den anderen, der – gewöhnlich nicht kam.

      Wer indessen regelmäßig erschien, war Anna Pawlowna in der Begleitung von Boris Alexeiwitsch, dessen Gesicht in jedem Zuge wieder den alten, matten, gelangweilten Ausdruck angenommen hatte. Zuweilen kam das Gespräch auf die neuesten sozialen Bewegungen Rußlands; man hörte Namen fallen wie: »Das russische Volk«, »die soziale Frage«, aber Anna Pawlowna hielt nie wieder eine Rede, darin sie sich vor ganz Moskau kompromittierte und Boris Alexeiwitsch brauchte nie wieder eine Dame in einer solchen bedenklichen Angelegenheit zu sekundieren.

      Zuweilen besuchte ein Nihilist die Teeabende der Fürstin: Wladimir Wassilitsch! Und wenn er nicht kam, so war die Fürstin hochgradig erregt. Kam er aber, so stieg ihre Aufregung noch höher, denn der Gast kümmerte sich fast gar nicht um die Wirtin, sondern schlürfte ein Glas Tee nach dem andern, ohne sich jemals in die Unterhaltung zu mischen. Er saß da mit seinem Lächeln, das die Dämmerung verhüllte, mit Blicken, darin sich außer Haß und Verachtung die Zuversicht eines baldigen Sieges aussprach. Jeder dieser Gänge kostete ihn einen gewaltsamen Entschluß; aber er bedurfte dieser Besuche, um sich immer wieder von neuem gegen die Feinde des russischen Volkes aufzustacheln, seinen Haß durch seine Beobachtungen zu nähren und aus seiner erhitzten Einbildungskraft immer von neuem Pläne zu schöpfen, die sämtlich auf das eine Ziel hinausliefen: auf die Vernichtung einer Menschenrasse, die für ihn an allem Unheil, das seit Jahrhunderten über das russische Volk gekommen, die Schuld trug.

      Trotz der Vertrautheit der Fürstin mit Anna Pawlowna, trotz des großen Andranges zu ihren Teeabenden, beabsichtigte die Fürstin im Laufe des Winters Moskau zu verlassen und ins Ausland zu gehen. Aber sie wollte nicht allein reisen. Zuerst hatte Wladimir ihre Vorschläge, sie nach Paris und später nach Nizza zu begleiten, brüsk abgelehnt, plötzlich zeigte er sich denselben geneigter. Die Fürstin war glückselig, wäre am liebsten gleich mit ihm abgereist. Aber Wladimir wußte die Reise immer von neuem hinauszuschieben, ließ indessen von der Fürstin die Pässe besorgen; nicht nur für sich und ihn, sondern auch für eine neue Kammerfrau, von welcher die Fürstin lange nichts wissen wollte, bis sie sich schließlich Wladimirs Willen fügen mußte. Die Pässe lagen bereit und Wladimir versprach der Fürstin, mit ihr abzureisen, sobald es ihm »möglich« sein würde.

      So standen die Dinge beim Beginn des Winters, über Moskau schien sich eine ewige Dämmerung herabzusinken; in totenfarbenem Grau lag die Erde, auf die der Himmel niederdrückte wie der Deckel eines Sarges. Dann begann es zu schneien, tagelang, wochenlang, bis das Wintergewand Rußlands fertig gewebt war. Endlich wurde es klar und kalt. Der Himmel strahlte in tiefstem Blau, und obgleich die Sonne nur schwach schien, war alles Glorie und Glanz.

      Die Dächer, die Türme und Kuppeln Moskaus leuchteten, als waren sämtliche Diamanten des Kreml darüber ausgeschüttet.

      Mit den ersten Schneeflocken, die herabrieselten, fiel in dem Gärtnerhause in der Nowaja Andronowka-Vorstadt ein junges Menschenkind in das Leben hinein, und die holdseligste Mutter beugte sich über das kleine Gesichtchen, das Kind anlächelnd, als sei es auf die Welt gekommen, die Menschen zu erlösen.

      Die Mutter hatte es erlöst! Tanias ganzer Jammer war verschwunden, vor dem Blick ihres Kindes vergangen, wie Reif am Sonnenschein. Nun konnte sie ihr Kind an der Brust halten und darüber ihre Lieder raunen, bis die Augen ihres Lieblings sich schlossen. Wie eine lange, bange Winternacht lag das vergangene Jahr hinter ihr, wie ein ewiger strahlender Sommertag lag vor ihr die Zukunft, darin ihr Kind sie anlächeln würde.

      Es war ein Knabe. Wladimir Wassilitsch war ein Sohn geboren worden! Wie im Traum ging er umher, alle Dinge schienen ihm verändert, das ganze Leben hatte für ihn eine andere Gestalt gewonnen. Wieder erwachten Empfindungen in ihm, von denen dieser Terrorist nichts geahnt hatte, gegen welche er vergebens ankämpfte. Er, der bisher in allen klaren Augenblicken immer nur an »die Sache« gedacht, konnte seine Gedanken jetzt nicht mehr von einem Wesen hinwegbringen, so klein und winzig, daß er es mit seinen Händen hätte bedecken können, mit einem so schwachen Lebensfunken in sich, daß jeder rauhe Windhauch denselben auszulöschen vermocht hätte. Schon bei dem Gedanken an eine solche Möglichkeit wurde der Vater von einer wahren Todesangst ergriffen, als ob mit dem einen Leben das Leben der ganzen Welt vertilgt werden sollte.