Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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in der Kammer alles ruhig blieb. Während dieser Mann mit kaltem Blute daran dachte, Hunderte von Menschenleben zu vernichten, klopfte ihm ängstlich das Herz, wenn in der Kammer sein kleiner Sohn schrie.

      Am Tage war es fast noch ärger. Wladimir mußte den größten Teil desselben außer dem Hause zubringen, in einer Tätigkeit, die alle seine Kräfte in Anspruch nahm. Mit den Verschwörern von ganz Rußland stand er in unausgesetzter Verbindung, hier einen Putsch vorbereitend, dort ein Attentat arrangierend; dazwischen schrieb er Pamphlete, diktierte Aufrufe an das Volk, richtete Drohbriefe an die Regierung; alles, was er sann und dachte, was er tat und trieb, war voller Blutgeruch, und durch alles klang das Lallen seines Kindes. In sein Leben war ein Wechseln von Empfindungen getreten, von Haß zu Liebe, von Härte zu Weichheit, so daß sein Gemüt unter den heftigsten Erregungen hin und her schwankte. Es kamen Stunden, in denen er wieder begann, seine alten Theorien auszuspinnen, daß der Mensch nichts lieben sollte, nichts als seine Ideen, diese einzig wahrhaft edlen Leidenschaften, denen er alles opfern müsse: Häuslichkeit und Heimat, Weib und Kind, das eigene Wohl und die eigene Glückseligkeit. Je schwächer er sich Tania und seinem Sohne gegenüber fühlte, desto mehr versuchte er mit dem ganzen Raffinement des Selbstquälers sich gegen sie zu verhärten.

      Aber in seiner Handlungsweise zeigten sich bereits große Inkonsequenzen. Er war ein Todfeind des christlichen Glaubens; und obgleich er wohl wußte, daß es ihm nicht gelungen war, Tania auch nur mit einem Gedanken von Gott abwendig zu machen, obgleich er wußte, daß sie sich, wie früher in ihrem Jammer, so jetzt in ihrem Glück in die Mysterien des Glaubens versenkte, fand er dennoch nicht mehr den Mut, sie von Gott hinwegzureißen. So duldete er auch, daß über dem Lager seines Sohnes ein Heiligenbild hing, daß Tania über ihrem Kinde die heiligen Zeichen machte und an seinem Bette inbrünstig betete. Ja, als er eines Tages seinen Knaben küssen wollte und auf der Brust an einer Schnur ein kleines silbernes Muttergottesbild entdeckte, tat er, als wenn er es nicht gesehen hätte. Wie ward Tania, die zitternd, gleich einer ertappten Sünderin, daneben stand, als Wladimir ihr den Knaben sanft in den Arm legte und schweigend das Zimmer verließ. Sie warf sich an der Wiege auf die Knie nieder, betete, weinte und dankte dem Himmel, denn sie war auf einmal der Zuversicht geworden, daß Wladimir in seinem Herzen wieder zum Glauben zurückgekehrt sei. Fortan ging sie jeden Tag nach Moskau in die Kirche, brachte der Himmelsmutter geweihte Kerzen dar und ergoß sich in glühenden Lobpreisungen für das Wunder, das in der Seele des Vaters ihres Kindes geschehen war.

      Und seltsam, höchst seltsam! War Wladimir jetzt mit seinen Mordplänen beschäftigt und dachte er dabei seines Knaben, so war es ihm eine Beruhigung zu wissen, daß die Mutter für sein Kind betete.

      Was aber war die Wonne Tanias, was das heimliche Glück Wladimirs über die Geburt des Kindes, verglichen mit dem Stolz Coljas! Colja ging mit einem Gesicht umher, als ob er der Vater wäre, und wurde fast hochmütig. Natürlich war es bei ihm eine ausgemachte Sache, daß niemals, solange die Welt bestand, ein solches Kind geboren worden, niemals, solange die Welt bestehen würde, wieder ein solches Kind geboren werden könnte. Wenn er in die Nähe des kleinen Wesens kam, ging er auf den Zehen. Niemals hatte er gewagt, in der Gegenwart des Wunderknaben ein lautes Wort zu sprechen; in der Kirche sprach man auch nicht! Und wo Tania mit dem Kinde weilte, da waren für Colja alle himmlischen Heerscharen versammelt. Am liebsten hätte er getan wie einer der heiligen drei Könige aus dem Morgenlande und das göttliche Kind angebetet. Seine Begeisterung für dieses Kind kannte keine Grenzen. Diese Händchen, diese Füßchen, dieses Gesichtchen – es war nicht zu glauben! Und was es für ein Stimmchen hatte; wie fein und zugleich wie kräftig! Durch das ganze Haus war sein Schreien zu hören und Colja lauschte darauf, als ob er ein Orakel vernähme. Es war gar nichts mehr mit ihm anzufangen. Er schien die Absicht zu haben, von jetzt an sein Leben lang nichts anderes mehr zu tun, als das Kind anzustaunen. Unsäglichen Kummer bereitete es ihm, als einmal das kleine Wesen bei dem Anblick seines bärtigen Gesichts jämmerlich zu schreien anfing. Ganz entsetzt über sich selbst, mit Tränen in den Augen schlich er davon und blieb den ganzen Tag über niedergeschlagen. Aber dann welches Glück, als Tania ihn später herbeirief, das Händchen ihres Sohnes nahm und mit diesem Colja durch den struppigen Bart fuhr; welche Wonne, als das kleine Dingelchen ganz herzhaft zugriff, ganz tüchtig packte und zerrte; etwas so Wundersames war Colja in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Er wurde jetzt sogar auf seinen Bart stolz und hätte jeden als Feind betrachtet, der diese höchste Zierde seiner Person nicht anerkannt haben würde. Ganz empört war er, daß es Winter war und er für das Kind keine Blumen schaffen konnte, oder Himbeeren, oder Vogeleier. Er nahm es für eine persönliche Beleidigung des Himmels gegen sich und sann Tag und Nacht darüber nach, womit er dem Kinde wohl Freude machen könnte. Nur um seinem mächtigen Liebesdrang Genüge zu leisten, verfertigte er, denn es war ja Winter, aus Birkenholz einen kleinen Schlitten mit höchst kunstreichen Schnitzereien, die er gelb und blau bemalte. Es ward ein wahres Wunder von Schlitten, aber für das wundervolle Kind lange nicht wunderschön genug! Colja lief hinaus in die winterliche Steppe und kam nicht eher zurück, als bis er einen prächtigen Fuchs gefangen hatte, dessen Fell er abzog, um daraus für das Kind eine Decke zu verfertigen. In dem Zimmer, darin früher Wladimir und Sascha schliefen, wohnte jetzt Natalia Arkadiewna und wurde von Tania auf das Zärtlichste gepflegt. Das Leben dieser jungen Fanatikerin zählte nach menschlicher Berechnung nur noch nach Tagen; aber mit ihrem gewaltigen Willen hielt sie es fest, sie wollte nicht sterben. Nicht eher, als bis für die »Sache« etwas Gewaltiges geschehen war, als bis die Nihilisten etwas Großes vollbracht hatten. Man mußte sie von allem, was vorfiel, genau unterrichten, und in ihrem Zimmer, an ihrem Bette, das sie nur selten verlassen konnte, wurde die Verschwörung gegen das Leben des Zaren organisiert. Angefeuert durch die dämonische Leidenschaft der Sterbenden, die mit schwacher Stimme glühende Reden hielt, den Terrorismus in wahren Dithyramben pries und prophetische Worte raunte, hielt das Komitee seine Beratungen. Wladimir war viel um sie, denn er bedurfte ihrer; er fühlte, wie sie Geist war von seinem Geiste, Seele von seiner Seele. Alles besprach er mit ihr, nur nicht, was Tania und das Kind anbetraf. Aber Natalia erkannte den Zwiespalt in seiner Natur und sah die Möglichkeit, daß er, der ihr Held war, sich und seinem Lebensideal treulos werden könnte aus Leidenschaft für seine Geliebte und aus Liebe zu seinem Sohne. Mit allen Kräften drängte sie ihn daher zu neuen Taten, unablässig bemüht, die Flamme seines Fanatismus zu schüren und ihn die Zukunft des russischen Volkes in leuchtenden Bildern sehen zu lassen. Sie schilderte ihm die Wonne eines Märtyrertums und gelobte, sich mit ihm einkerkern zu lassen, mit ihm nach Sibirien zu wandern, auf das Blutgerüst zu steigen. Wenn er sie so reden, mit ihrem Totengesicht solche Zukunftspläne machen hörte, packte ihn Grausen. Sie fühlte das und sagte mit einem Lächeln: »Ich schwöre dir zu, daß ich mein Gelübde halten werde, denn etwas in mir ist stärker als der Tod. Ich werde leben bleiben und ich werde dir folgen, wohin es auch sei.«

      Und in der Tat schien sie sich noch einmal zu erholen. Sie begann ihr Bett zu verlassen und erzwang es, jeden Tag länger aufzubleiben. Sie wußte es durchzusetzen, daß man ihr bei dem Moskauer Putsch eine Rolle zuwies. Mit Wladimir zusammen wollte sie die Mine, die den Palast Petrowsky in die Luft sprengen sollte, anstecken; und als man anfing zu befürchten, daß der Stollen, den Sascha mit Hilfe Coljas des Nachts grub, sich mit Wasser füllen würde und infolgedessen der Schwefelfaden versagen könnte, war es Natalia, die das Entzünden der Mine mittels einer Lunte vorschlug. Natürlich wurden alle diese Pläne vor Tania geheimgehalten.

      Zweiundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Es fehlte den Nihilisten an Geld. Die Agitation verschlang Summen, von denen ein Teil des russischen Volkes hätte gekleidet und genährt werden können. Wladimir erhielt den Auftrag, bis zu einem gewissen Zeitpunkt ein gewisses Kapital zu beschaffen; aber seine Hilfsquellen waren erschöpft. Außerdem war der Termin ziemlich nahe und das benötigte Kapital recht bedeutend. Er wußte keinen Rat. Denn auch die Fürstin begann schwierig zu werden, wenn Wladimir mit einer neuen Forderung kam, so daß es diesem in der letzten Zeit jedesmal gewesen war, als ob Scham und Ekel ihn ersticken müßten. Er war wütend auf Sascha, welcher aus Anna Pawlowna eine Goldgrube für die Sache hätte machen können; und wütend war er auf Wera, die nicht einmal den Versuch gemacht hatte, Boris Alexeiwitsch