Aber dafür schien keine Hoffnung vorhanden zu sein. Der Himmel war die Liebe und diese Frauenseele ward von Haß erfüllt. Fania erzählte ihrer Gefährtin ihre Geschichte, welche natürlich die einer Verführten war. Es drohte Weras Herz zu zermalmen, als sie fast dasselbe vernahm, was sie selber erlebt hatte. Ein junger Adliger, den Fania leidenschaftlich liebte, hatte das siebzehnjährige Mädchen um seine Ehre gebracht. Der Beginn der Geschichte dieser Gesunkenen hätte auch der Anfang von Weras Geschichte sein können; dann freilich war bei jener nach dem ersten Fall sehr schnell der Abgrund gekommen. Wer aber trug daran die Schuld?
Ja, wer trug die Schuld daran?
Es war immer das eine, das in ihrer Seele aufschrie, das alle anderen weichen Laute übertönte: Wer trägt die Schuld daran? Und immer war es dieselbe Antwort, die sie sich selbst gab, die sie sich selbst geben mußte, so mächtig sie auch rang, etwas anderes zu finden, etwas, das von jenen die Schuld nehmen könnte. Aber es half ihr nichts; und bald ertönte nur eine Stimme in ihrem Innern: »Sie, die wir hassen, sie, denen wir Rache geschworen, sie, die uns zerstören und verderben an Seele und Leib – sie tragen die Schuld!«
Wenn sie daran dachte, was beschlossen worden und was geschehen sollte, so wurde sie zwar von Grausen gepackt, aber sie blieb stark. Das Entsetzen, welches sie fühlte, lähmte sie nicht. Von ihrem Kammerfenster aus beobachtete sie die Bewohner des Palastes, lebte sie deren Leben mit. Sie sah Boris Alexeiwitsch bei der Prinzessin aus und ein gehen; sie sah ihn mit seiner Geliebten zusammen ausfahren; sie sah ihn bei ihr in ihren Gemächern. Entweder waren Gäste anwesend, wurden Gesellschaften und Feste gefeiert, die bis in den grauenden Tag hinein dauerten, oder niemand war bei der Prinzessin – nur Boris Alexeiwitsch. Täglich erblickte sie die beiden am Fenster zusammenstehend und miteinander sprechend. Sie waren ihr so nahe, daß sie sich oft einbildete, sie hörte sie reden. Wera meinte seine glühenden Versicherungen, seine umstrickenden Worte zu hören. Sie erkannte, was sein Gesicht für einen Ausdruck hatte und wie er die Prinzessin ansah: und oft mußte sie sich Gewalt antun, nicht bis dicht an die Scheiben vorzutreten und sich den beiden gegenüber zu zeigen. Nachts gewahrte sie das Licht in Anna Pawlownas Schlafzimmer, und sie stand die halben Nächte lang mit bloßen Füßen am Fenster, zu dem matten Scheine hinüberstarrend und denkend, denkend, sie tragen die Schuld daran – sie, sie!
Was Wera in diesen furchtbaren Nächten außerdem dachte, das war, daß für jene dort drüben, während sie sich küßten, unter ihren Füßen das Grab gegraben wurde und daß ihnen recht geschähe.
Wenn auch die Grundsätze des Nihilismus Wera mehr und mehr mit Abscheu erfüllten und sie dieselben ihrer Zimmergenossin gegenüber mit der ganzen Kraft ihrer Empörung zu bekämpfen suchte, wenn auch der blutige Schatten des gemordeten Grischa in Weras Leben getreten war, so sagte sie doch: Es geschieht ihnen recht!
Es war nicht der Verrat, der an ihr begangen worden, der sie so unerbittlich machte; aber Boris Alexeiwitsch hatte nicht nur sie allein, sondern, ebenso wie Anna Pawlowna in Sascha, hatte er in ihr das Volk verraten und auf diesen Verrat stand auch für Wera die terroristische Strafe des Todes.
Sie war zu dieser letzten und äußersten Konsequenz Wladimirscher Theorien durch einen Kampf gelangt, bei dem es sich um Tod oder Leben, um Wahnsinn oder Vernunft handelte. Doch nun war sie fertig damit und – es geschah ihnen recht! Das Exekutivkomitee hatte das Urteil gefällt, und das Urteil mußte vollstreckt werden.
Und wo befand sich Sascha?
Er war eines Tages aus seiner Wohnung verschwunden, niemand wußte, wohin. Marja Carlowna geriet darüber in große Unruhe. Sie führte wieder ihr altes, wildes Leben, kämmte sich im Kreise ihrer Gäste das Haar, wobei sie ihre leidenschaftlichen Heimatslieder sang. Die Schenke kam bald in Verruf, Trotzdem hielt die Wirtin nach wie vor gute Freundschaft mit den Polizisten, die indessen nach wie vor nichts von dem Treiben der Nihilisten in Erfahrung bringen konnten; obgleich sie es an keinem Mittel fehlen ließen, war Marja Carlowna die Verschlossenheit und das Schweigen selbst, übrigens wußte diese, daß ein großer Schlag vorbereitet wurde und daß Sascha eine Rolle darin spielen würde. Sie hatte mit ihm zu reden und suchte daher seinen Aufenthalt zu ent-* *decken. Aber Sascha hatte alle Spuren so sorgfältig verwischt, daß es der ganzen Verschlagenheit, Willenskraft und Zähigkeit dieses leidenschaftlichen Weibes bedurfte, um in ihrer Suche nicht nachzulassen. Sie überließ die Schenke Knechten und Mägden und durchstreifte Moskau nach allen Richtungen, besonders in jenem Teile der Stadt, in welchem sich der Palast Petrowsky befand. Eines Tages gewahrte sie, das Haus Anna Pawlownas umschleichend, einen Arbeiter, der an der Restauration der Kirche beschäftigt war, die dem Palast gegenüber lag. Der Mann trug Steine, und sie würde ihn nicht erkannt haben, wenn Sascha sie nicht erblickt hätte und erschrocken zusammengefahren wäre. Marja Carlowna tat, als bemerkte sie gar nichts, und ging ruhig ihres Weges weiter. Von nun an blieb sie zu Hause.
Übrigens war Sascha in der Tat kaum wiederzuerkennen. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, kämmte das Haar wie ein russischer Bauer tief in die Stirn hinein und trug einen langen Kaftan aus ungebleichter Leinwand. Der Bauaufseher behandelte ihn wegen seiner Faulheit wie einen Hund, seine Mitarbeiter scheuten oder haßten ihn; denn er schien ein finsterer Mensch, dessen bleiches Gesicht und unsteter Blick den Leuten unheimlich waren. Mit niemandem wollte er in Verkehr treten, kaum, daß er einem ein Wort gönnte.
Jeden Tag sah Sascha an einem der Fenster des Besserungshauses Wera in ihrer dunkelgrauen, häßlichen Tracht, das Haar unter einer unförmigen schwarzen Haube verborgen. Die Blicke der beiden begegneten sich, ruhten eine Weile ineinander, dann wandte Wera ihre Augen von der Straße ab, nach dem Palast Petrowsky hinüber, worauf Sascha seine Arbeit fortsetzte.
Und jeden Tag erblickte er, wenn er Steine trug, Anna Pawlowna. Er sah sie mit ihrem Liebhaber in ihre Equipage steigen und von der Spazierfahrt zurückkehren; und es geschah häufig, daß der Wagen der Prinzessin ihm Kleider und Gesicht mit Schmutz bewarf. Er sah seine ehemalige Geliebte in strahlender Schönheit an der Seite von Boris Alexeiwitsch und lediglich dieser tägliche Anblick der beiden Frauen gab ihm die Kraft, das Unmögliche möglich zu machen.
Denn hatte er den ganzen Tag über Steine getragen, so begab er sich eiligst in eine nahe Teeschenke, genoß etwas Warmes und suchte dann seine Lagerstatt auf, die ihm durch Wladimirs Verbindungen im Hause des Popen eingeräumt worden war. Taumelnd vor Müdigkeit, in vollständiger Ermattung, sank er nieder, um sogleich in einen totenähnlichen Schlummer zu verfallen. Aber schon nach einer Stunde wurde er von Colja geweckt. Im Augenblick war Sascha ermuntert. Er zündete eine Laterne an und die beiden schlichen in den Keller hinab. Hierhin hatten sie ihre Werkzeuge geschafft, welche sie hinter allerlei Gerümpel versteckt hielten. Sie zogen Haue und Schaufel hervor, entfernten von der einen Mauer eine Bretterwand und begannen ihre Arbeit. Kein Wort sprachen sie dabei miteinander; was sie sich zu sagen hatten, sagten sie sich durch Zeichen und Gebärden.
Sascha wühlte wie ein Maulwurf. Wenn seine Arme erlahmten, wenn die Schaufel seinen Händen zu entfallen drohte, ließ er das Bild Anna Pawlownas vor sich treten, wie er sie während des Tages gesehen, und seine Arme wurden wieder stark, und er grub und grub, als gälte es sein Leben. Mit jedem Spatenstiche warf er eine Scholle mehr aus dem großen Grabe auf, welches er