Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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ihr Liebchen und Herzblättchen nannte, und die sogar gegen den armen, bleichen Sascha das Wohlwollen und die Herzensgüte selbst war. Sie sorgte für die Wirtschaft, lief jeden Morgen durch halb Moskau, wobei sie ein unendliches Vergnügen darin fand, die kleinen Vorräte, deren sie für den Haushalt bedurfte, Stück für Stück einzukaufen; zu den allerbilligsten Preisen, unter jammervollem Seufzen und Stöhnen über die schlechten Zeiten. Dann stand sie am Herde, kochte und briet, und rühmte bei Tische selber ihre Kochkünste, um den anderen Appetit zu machen und war seelenvergnügt, wenn es dem Mütterchen oder Wera zu schmecken schien.

      So oft Wera sich von dem Mütterchen fortschleichen konnte, ging sie hinüber zu Sascha und setzte sich mit ihrer Arbeit zu ihm; sprach auch keines von beiden ein Wort, so fühlte doch jedes die Gegenwart des andern als das einzige, was ihm vom Leben übriggeblieben. Nachts, wenn die beiden Frauen schliefen, wachten die zwei Gefährten zusammen und Sascha lernte Wera an, ihm bei seiner Tätigkeit Hilfe zu leisten. Denn es wurde wieder viel Dynamit gebraucht, für Moskau sowie für ganz Rußland. Die politische Atmosphäre Rußlands glich der Schwüle vor dem Ausbruch eines Gewitters, und die Nihilisten, die sich in Moskau so lange nicht hatten rühren dürfen, begannen von neuem eine fieberhafte Tätigkeit. Wladimir Wassilitsch schlug die Anlegung verschiedener Minen vor und erlebte den Triumph, daß das Exekutivkomitee seine kühnen Projekte akzeptierte. Die Welt sollte erleben, daß es in Rußland etwas Unsterbliches gab, den Nihilismus.

      Als Wera eines Morgens Sascha besuchte, fand sie diesen auf einem Stuhle sitzen, in der Hand ein Papier, darauf er starr hinsah.

      »Sascha!« rief sie ihn an; doch er blickte nicht auf.

      »Was ist das für ein Papier? Darf ich lesen?«

      Sascha nickte. Wera nahm ihm das Schreiben aus der Hand, las es, verfärbte sich, legte das Papier auf den Tisch.

      »Wann hast du diesen Befehl erhalten?«

      »Gestern abend.«

      Sie warf einen Blick nach der Ecke hinüber, wo Saschas Bett stand. Es war unberührt.

      »Du hast die ganze Nacht hier gesessen?«

      »Die ganze Nacht.«

      »Und hast darüber nachgedacht.«

      »Und habe darüber nachgedacht.«

      »Was wirst du tun?«

      »Was ich tun werde – –«

      »Wirst du gehorchen?«

      »Ja.«

      Wera trat von ihm fort und schritt schweigend im Zimmer auf und ab, wobei sie von Zeit zu Zeit nach Sascha hinüberblickte. Doch der saß da, ohne sich zu regen, mit starrem Blick, den Ausdruck eines furchtbaren Entschlusses in den bleichen Zügen.

      Wera wurde das lange schwere Schweigen unheimlich. Sie ging zu Sascha und blieb vor ihm stehen.

      »Wann sollst du anfangen?« fragte sie flüsternd.

      »Heute noch. Wladimir Wassilitsch hat mich bei den Arbeitern untergebracht, welche die Kirche renovierten; du weißt, jenes Gebäude, das dem Palast gegenüberliegt. Ich schlafe auch dort. Den Tag über muß ich arbeiten, ich glaube Steine tragen, und die ganze Nacht hindurch graben. Das heißt, zuerst muß ich in den Keller des Popen die Werkzeuge hinunterschaffen. Es muß sehr heimlich geschehen.«

      »Du wirst es nicht durchführen können,« rief Wera.

      »Ich werde es durchführen; das weiß Wladimir Wassilitsch auch recht gut. Darum hat er mich dafür bestimmt.«

      Beide sahen sich an. Dann wieder eine lange Pause.

      »Du weißt doch,« sagte Wera leise, »daß sich Anna Pawlowna von ihrem Manne trennen will?«

      »Ich weiß es. Übrigens wird der Prinz trotzdem im Palast dem Zaren ein Fest geben, wenn der hier nach Moskau kommen sollte, wie er das fest zu beabsichtigen scheint.«

      Wera überhörte die Bemerkung Saschas und fuhr fort: »Weißt du, wer jetzt bei Anna Pawlowna wohnt?«

      »Nein.«

      »Du möchtest es wohl auch nicht wissen?«

      »Warum sollte ich es nicht wissen mögen? Ich kann es mir sogar denken.«

      »Bei Anna Pawlowna wohnt jetzt Boris Alexeiwitsch.«

      »Und das sagst du so ruhig?«

      »Warum sollte ich es nicht ruhig sagen? Das ist ja längst vorüber! Seitdem ist vieles geschehen.«

      »Freilich, freilich. – – Gestern hat Wladimir Wassilitsch mir den Plan von Moskau geschickt.«

      Er stand auf, holte den Plan und breitete denselben auf dem Tische aus. Wera trat hinzu.

      »Dieser rote Punkt,« begann Sascha ihr den Plan zu erklären, »dieser rote Punkt ist der Palast Petrowsky. Du siehst ihn doch?«

      »Ganz deutlich.«

      »Gut! Dieses blaue Kreuz hier bezeichnet die Lage der Kirche. Dazwischen liegt die Straße. Die Straße wird ungefähr zehn Meter breit sein. Von dem Keller des Popen bis unter den Tanzsaal Anna Pawlownas beträgt die Entfernung gute zwanzig Meter. Bis unter den Tanzsaal soll nämlich die Mine führen. Du siehst, daß ich keine Zeit zu verlieren habe und daß es wirklich eine schwere Arbeit ist. Aber ich werde sie ausführen. Wladimir Wassilitsch kann sich darauf verlassen.«

      »Wenn Wladimir Wassilitsch den Palast in die Luft sprengen will,« schaltete Wera ein, »warum läßt er dann nicht Dynamit in den Keller des Palastes selbst schaffen? Wozu diese Mine? Natalia Arkadiewna wohnt ja im Hause.«

      »Aber nicht lange mehr. Sie ist schwer krank, man erwartet täglich ihren Tod. Auf Natalia Arkadiewna kann sich Wladimir Wassilitsch nicht mehr verlassen. Überdies soll sie in die Nowaja-Andronowka-Vorstadt geschafft werden; Tania will sie pflegen. Ich werde Wladimir Wassilitsch bitten, daß er mir Colja zur Hilfe gibt; er kann ja des Nachts zu mir kommen. Es ist nur, damit wir zur rechten Zeit fertig werden.«

      »Da Wladimir Wassilitsch die Mine vorbereiten läßt, so hat er wohl sichere Nachricht über die Reise des Zaren nach Moskau?« fragte Wera.

      »Davon weiß ich nichts. Ich glaube, Wladimir Wassilitsch würde die Mine auch dann legen und aufsprengen lassen, wenn der Zar auf seiner Reise gar nicht durch Moskau käme.«

      »Auch dann? Sascha, auch dann?« rief Wera.

      »Nun ja, was willst du? Wladimir Wassilitsch behauptet, daß auch alle die anderen aus Rußland vertilgt werden müßten – nämlich alle die Reichen und Vornehmen. Du weißt ja, er haßt sie alle! Er behauptet, sie wären alle gleich. Einer wäre wie der andere.«

      »Meinst du, daß er recht hat?«

      »Ja,« sagte Sascha fest und bestimmt. »Und dann meint Wladimir Wassilitsch, es wären solche Verräter. Und du weißt ja, daß bei uns auf Verrat der Tod steht. Auch Boris Alexeiwitsch weiß das und – und Anna Pawlowna.«

      »Aber hat Anna Pawlowna uns wirklich verraten?«

      Zum erstenmal kam eine leidenschaftliche Bewegung über Sascha. Der starre Ausdruck in seinen Augen verschwand, seine Züge belebten sich unheimlich. Mit heiserer Stimme stieß er hervor: »Anna Pawlowna tut nichts mehr für die Sache; ja, sie weigert sich entschieden, noch etwas dafür zu tun. Wladimir Wassilitsch hat ganz recht gehabt, in allem recht! Nie hat sie das Volk geliebt, nie, nie! Sie hat mit dem Volke gespielt. Sie weiß nichts von ihm, nichts von seinem Herzen, nichts von seinen Leiden. Alles war Lüge, Lüge, Lüge! Und deshalb – – Und deshalb läßt Wladimir Wassilitsch diese Mine legen, deshalb hat Wladimir Wassilitsch mir diesen Auftrag erteilt, und deshalb werde ich seinen Auftrag ausführen.« Lange schwiegen beide; plötzlich fuhr Sascha auf: »Sagtest du nicht, Boris Alexeiwitsch wohne bei Anna Pawlowna?«

      »So hat man mir erzählt. Ich glaube, unsere Wirtin Marja Carlowna tat es; in ganz Moskau redet man davon, aber sie kümmert sich nicht darum. Sie soll ihn liebhaben. Warum auch nicht? Er ist ein schöner Mann und vornehm! So vornehm,