»Vieles geschehen,« sprach Grischa ihr nach und starrte sie aus hohlen Augen an.
»Seitdem hat mich ein anderer Mann auf den Mund geküßt, ein Mann, der mich nicht geliebt, der von mir nur meinen Leib begehrt hat. Aber küssen ließ ich mich doch von ihm! Und ich kann seinen Kuß nicht wieder von mir nehmen, mein Mund muß ihn Zeit meines Lebens als Brandmal tragen. Kein anderer Mann darf mich je wieder küssen, am wenigsten einer, den ich achte und verehre, der besser, viel besser ist als ich.«
Aber er hatte nichts gesagt. Wera sprach weiter: »Sie sehen ein, daß Sie mich nicht lieben dürfen, daß ich nicht wert bin, von Ihnen geliebt zu werden, daß Sie mich vergessen müssen. Nicht wahr, Sie sehen das ein?«
Grischa nahm seine ganze Kraft zusammen. Sich von ihr abwendend, sagte er leise: »Warum sind Sie dann wiedergekommen, ach, Wera Iwanowna, warum? Das hätten Sie sich nicht antun sollen!« Ich muß sein Leben retten, dachte Mera und erwiderte: »Ich bin wiedergekommen, Sie um etwas zu bitten.«
»Um was?«
»Ich hörte in Moskau, daß Sie kein Land mehr unter Ihre Bauern verteilen wollen. Ist das wahr?«
»Das ist wahr.«
»Nun, dann bitte ich Sie, geben Sie Ihren Bauern auch noch das zweite Dritteil Ihres Besitzes. Wollen Sie?«
»Nein.«
»Warum nicht? Sie wollten es doch damals tun, als ich das erstemal zu Ihnen kam.«
»Damals mußte ich Ihnen versprechen – mußte ich Ihnen mein Ehrenwort geben, keinen Fußbreit unter meine Bauern zu verteilen. Ich halte mein Versprechen.«
»Wenn ich Sie aber bitte, es zu brechen. Grigor Michailitsch, ich bitte Sie.«
Er sah sie lange an, mit einem Blicke, der ihr durch und durch ging.
Dann sagte er feierlich: »Als Sie damals zu mir kamen, waren Sie noch rein und gut und wollten mein Bestes; darum nahmen Sie mir damals das Versprechen ab. Was Sie heute von mir wollen, wo Sie – wo Sie nicht mehr so sind, wie Sie damals waren, das mag auch zu meinem Besten sein. Aber heute tue ich es nicht, sondern ich bleibe bei dem, was ich Ihnen damals versprechen mußte, wo Sie würdig waren, geliebt zu werden, so sehr ein Mann ein Weib lieben kann. Leben Sie wohl! Wera Iwanowna, leben Sie wohl!«
Er wandte sich langsam, ging langsam, mit schleichenden Schritten und gesenktem Haupte von ihr fort, seinem Hause zu, das sein Mütterchen unterdessen zum Empfang der Braut mit ihren schönsten Blumen geschmückt hatte.
Neunzehntes Kapitel
Wera verließ die Landstraße und ging quer über das brachliegende, verwilderte Land, das ihrer heimatlichen Steppe glich. Dieselben Blumen blühten hier, wie sie um diese Zeit des Jahres in Eskowo blühten. Wera kannte den Namen jeder Blume und ihre Heilkräfte und pflückte mechanisch diejenigen Pflanzen, von denen sie wußte, daß sie für Verwundungen gute Dienste leisteten. Sie dachte an ihren Auftrag und daran, wie sie denselben ausführen sollte.
Man hatte ihr viele Papiere mitgegeben, darunter verschiedentliche Dokumente mit großen, prächtigen Siegeln. Sogar einen kaiserlichen Ukas führte sie bei sich. Ob das alles wahr war?
In diesem Ukas gab der Zar den Bauern die Versicherung seines väterlichen Wohlwollens und gebot ihnen, sich gegen die Gutsbesitzer zu erheben. Das gebot der Zar! Um das Gebot des Zaren dem Volke mitzuteilen, war Wera ausgesendet worden. Würde das Volk dem Gebote des Zaren gehorchen? Das russische Volk liebte seinen Herrscher. Dieser war für das russische Volk das »milde, gute Väterchen«, von dem alle Segnungen ausgingen, eine große, heilige, mystische Persönlichkeit, welche, nicht anders wie die Vorsehung, das Schicksal der Menschen bestimmte und erfüllte. Immer wieder stieß Wera in der Empfindung des russischen Volkes auf die völligste Hingabe an sein Herrscherhaus, auf eine ungeheure, unsterbliche Sehnsucht, seinen Regenten zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Es war dieselbe Sehnsucht, von der sie selber beseelt wurde; und wohin hatte dieser mächtige Drang sie geführt? Vom Volke fort in die Arme eines Boris Alexeiwitsch!
Die Sonne stieg höher und höher. Wera begann müde zu werden und setzte sich unter einem Brombeerstrauch, der voll großer, tiefschwarzer Früchte hing, bei deren Anblick Wera plötzlich fühlte, daß sie Hunger hatte.
So pflückte sie denn von den Beeren und aß. Sogleich nahmen ihre Gedanken eine andere Richtung. Jetzt war Grigor Michailitsch längst wieder zu Hause. Was würde er tun? Vielleicht lag er in diesem Augenblick gerade an der Brust seines Mütterchens, klagend, daß es nun mit allem Leben und allem Glück für ihn vorbei sei. Und sein Mütterchen konnte ihn auch nicht trösten. Er liebte sie, dieser gute, gute Grigor Michailitsch, er hatte sie verehrt, er hätte sie so gerne angebetet – – Jetzt hatte er sich von ihr abgewendet.
Und das war gut so! Wehe ihm, wenn er sie noch immer lieben würde, wehe ihr, wenn sie nicht alles getan hätte, seine Liebe aus seinem Herzen zu reißen, ihn nicht gelehrt hätte, sie zu verachten.
Aber er wollte sein Versprechen halten; und daß er dadurch, gerade dadurch verderben mußte und verloren war, das war es, was Wera um den Verstand zu bringen drohte. Sie würde hingehen müssen, sie würde den Bauern den Ukas des Zaren überbringen, sie zum Aufstande reizen müssen. Sie kam und schwang den Feuerbrand, sie warf die Fackel in das Haus, die Flammen stiegen, loderten, lohten, das Feuer griff um sich, weiter, immer weiter! Sie stand dabei und sah, ohne eine Hand regen zu können, dem von ihr entfachten Brande zu, und ging fort von dem qualmenden Aschenhaufen, um von neuem die Fackel zu schwingen über Schuldige und Unschuldige, bis es auch für sie einmal ein Ende nahm; in den Kerkern Moskaus, in den Bergwerken Sibiriens, auf dem Schafott.
Aber – war der Ukas des Zaren echt?
Sie zog das Schriftstück aus ihrem Kleide. Ein Pergament mit einem goldenen Rand, mit der Unterschrift des Kaisers Alexander des Zweiten und den Siegeln der Kommissare versehen.
So etwas konnte doch wohl nicht gelogen sein? Alle die milden, gütigen und weisen Worte, die der Zar dem russischen Volke sagen ließ, waren in Wirklichkeit von ihm gespendet worden. Sie hielt in der Hand, was von der Person des Zaren ausgegangen war; sie hielt das Glück des russischen Volkes in Händen. Und Wera beugte sich auf das Papier herab, um die Unterschrift des Kaisers zu küssen.
Denn es war wahr! Nicht als Lügnerin und Betrügerin würde sie heute vor die Bauern treten, sondern als eine Abgesandte des Kaisers. Das gab ihr neue Kräfte. Sie las noch einmal sorgfältig ihre Instruktionen durch, dann kniete sie auf freiem Felde nieder und betete, betete, wie sie nie zuvor gebetet hatte.
Bis zum Abend trieb sie sich auf der Steppe umher, fortwährend Dawidkowo im Auge behaltend. Sie gelangte in das Birkenwäldchen, zu dem Lieblingsplatze Grischas, den dieser ihr damals auf ihrem Spaziergange mit so glühenden Farben geschildert hatte. Ihr erster Gedanke war, dem Orte zu entfliehen. Aber sie blieb bis die Nacht einbrach, bis es Zeit war, ihr Vorhaben zu beginnen.
Nun begab sie sich direkt nach dem Dorfe. In die erste Hütte ging sie hinein und fragte nach dem Bauern Timoteus Petrowitsch. Die Leute starrten sie an wie ein wildes Tier; endlich führte die Frau sie zu dem Dorfältesten, den Wera genannt hatte. Aber der Mann war viehisch betrunken, und Wera versuchte vergebens, ihm verständlich zu machen, um was es sich handle. Bei dem Namen des Kaisers schlug der Berauschte das Kreuz und murmelte ein Gebet; darauf brach er in Verwünschungen aus gegen seinen Herrn, weil dieser ihn und die Bauern ins Unglück gestürzt habe, da er ihnen von seinem Lande nur ein Dritteil gab. Es blieb Wera nichts anderes übrig als zu warten, bis der Mann nüchtern geworden. Sie bat also das Weib des Bauern um ein Nachtlager, welches ihr jedoch im Stalle angewiesen wurde. So ging sie hinaus, entschlossen, die Nacht im Freien zu verbringen.
Unwillkürlich richtete sie ihre Schritte nach dem Herrenhause. Wie eine dunkle Mauer stieg der Lindenwald,