Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
Скачать книгу
Anuschka brummte und brummte. Aber das Mütterchen, obgleich es wachte und sich seines Frevels vollständig bewußt war, ließ Anuschka brummen; denn Grischa war krank und ward mit jedem Tag kränker. Das Prachtmädchen war fort und das Prachtmädchen kam nicht wieder! Solche Dummheit! Warum kam sie nicht wieder? Was kümmerte es das Mütterchen, ob der Vater des Prachtmädchens Iwan oder Stephan oder Peter hieß, wenn sie dabei doch solches Prachtmädchen war und ihr Sohn Grischa sich zu Tode härmte? Sie sollte wiederkommen! Was machte sie in der großen Stadt unter den vielen, vielen Menschen, wo es so unchristlich zuging? Als ob sie nicht wüßte, wie es mit Grischa stand, und als ob es in der Welt einen zweiten Grischa gäbe und ein zweites Dawidkowo? Was wollte sie eigentlich? Wo fand sie solche Linden, solche Blumen, solche Gurken, solche Melonen und – einen solchen Grischa! Aber sie kam und kam nicht wieder und mit Grischa ward es schlechter und schlechter.

      Vor den Augen seines Mütterchens verfiel er in Schwermut, magerte er ab, ward er traurig und bleich – ihr Grischa mager, traurig und bleich! Er verlor allen Appetit und gewiß auch allen Schlaf; selbst der Tee schmeckte ihm nicht mehr.

      Und das Mütterchen verlor alle Lust am Leben und verbarg den Brautschmuck in den tiefsten Grund der Truhe. Die Braut kam nicht!

      Aber was für eine Welt es war! Dem Mütterchen stand der alte Kopf still. Ungeheure Sachen gingen vor, Sachen, die kein Mensch begreifen konnte. Von allen Seiten liefen Unheilsnachrichten ein, aus der ganzen Umgegend kamen Gerüchte von Aufständen und Tumulten, versetzten die verständige Anuschka in Wut und das gute Mütterchen in Todesangst.

      Grischas Bauern verlangten von dem Besitz ihres Herrn auch noch das zweite Drittel und stießen heftige Drohungen gegen ihn aus. Denn ihr Herr wollte nichts hergeben, nicht einen Fuß breit! Sein Mütterchen kam in ihrer Herzensangst zu ihm gelaufen, weinte, bat und beschwor ihn: »Gib es ihnen! Es bleibt immer noch genug für uns. Besser weniger Land und längeres Leben. Ein Weib nimmst du ja doch nicht mehr. Grischa, mein Sohn, gib es ihnen!«

      Aber, obgleich er »nun ja doch nicht mehr« ein Weib nahm, wollte er den aufständischen Bauern nichts mehr geben. Was hätte sie davon denken müssen, sie, die nicht wiederkam? Er hatte es ihr versprochen. Dem Versprechen, welches er ihr gegeben, treu zu bleiben, war noch sein einziger Trost.

      Jeden Tag ging er denselben Weg, den er an jenem Morgen – dem einzigen Maimorgen seines Lebens – mit ihr gegangen war; durch den Lindenwald, darin die Veilchen längst verblüht waren, nach dem Gemüsegarten und den Obstspalieren. Mit der größten Aufmerksamkeit betrachtete er jedes Obstbäumchen, vor dem er mit Wera gestanden hatte, höchlichst unzufrieden, wenn die Frucht nicht seinen Erwartungen entsprach, und glücklich, wenn sie schwoll und reifte.

      Jedesmal, wenn er den Gärtnerburschen sah, rief er ihn zu sich und beschenkte ihn, hatte doch der Knabe Weras Blumen genommen und nach Hause getragen.

      Aus dem Garten begab er sich auf den Hof, ging, in tiefes Sinnen verloren, durch die verödeten Ställe, sah mit Besorgnis überall die Unordnung, die Verwilderung und den Verfall, überlegte, wie er den schmählichen Zuständen abhelfen würde – sobald sie erst da wäre! (Sie mußte ja jeden Tag wiederkommen!) Geduldig hörte er die Klagen des frechen Gesindes, die unverschämten Forderungen der rebellischen Bauern, sowohl bei ihrem Murren wie bei ihren Drohungen seine Ruhe bewahrend, immer denkend: Wenn sie erst da ist, wird das alles anders werden. Und sie konnte ja schon morgen wiederkommen!

      Er ging hinaus auf das Feld, aber in den Lüften war es stumm. Er blieb oft stehen, lauschte und wunderte sich, daß es so still war.

      Das Getreide stand hoch aufgeschossen, goldgelb, mit schweren Ähren. Grischa betrachtete es mit den Blicken des Landmanns, aber es gehörte seinen Bauern: Wo die Frucht schön stand, gehörte das Feld stets seinen Bauern und wo sie kümmerlich ober gar nicht wuchs, war es sein Eigentum. An seinem Eigentum ging er vorüber, ohne einen Blick darauf zu werfen. So kam er an den Acker, wo damals der Bauer die Pferde halb zu Tode geprügelt; seine Pferde! Jedesmal blieb er stehen und blickte auf den Fleck, wo Wera gestanden. Wie schön hatte sie ausgesehen in ihrem Zorn!

      Hier war es auch gewesen, wo sie ihm das Versprechen abnahm.

      Er ging weiter und weiter, bis zu dem Birkenwald, den er ihr damals aus der Ferne gezeigt hatte, Es war schön dort! Der Sumpf mit seinen hohen Binsen, dem schwankenden Röhricht und der regungslosen Flut, darin sich der blaue Himmel spiegelte und die Wipfel der Bäume. Jedesmal ärgerte er sich, daß er ihr diesen Teil seines Besitzes nicht gezeigt hatte und freute sich darauf, ihr denselben zu zeigen, vielleicht morgen schon!

      Am Rande des Sumpfes, unter einer Birke liegend, sann er nach, sann und sann.

      Spät abends erst begab er sich nach Hause. Wenn sie ihm jetzt entgegengegangen käme. Er atmete schwer, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Herzschlag schien zu stocken. Wenn er jetzt im Lindenwald plötzlich ihre hohe, schlanke Gestalt sehen, plötzlich ihre ernste, klangvolle Stimme hören würde. Was sollte er dann wohl tun? Sie an seine Brust reißen, in seine Arme nehmen, sie auf seinen Armen in sein Haus, zu seinem Mütterchen tragen.

      Aber sie kam nicht.

      Je mehr er sich dem Hause näherte, desto mehr beschleunigte er seine Schritte. Zuletzt lief er fast; sie konnte ja bereits angekommen sein und ihn überraschen wollen. Trat er dann ins Haus, so sah er sich nach allen Seiten um, spähte hinter die Schränke, in die Ecken. Aber sie stand nirgends verborgen! Trat er ins Zimmer, so suchten seine Blicke die Augen seines Mütterchens; die würden ihm ihre Gegenwart sicher sogleich verraten! Sie verrieten auch jedesmal etwas: Sorge, Angst, tiefsten Kummer. Dann wandte er sich traurig ab. Recht zum Überfluß schielte er noch hinüber nach dem Tisch, ob dort vielleicht für vier Personen gedeckt wäre? Aber er sah stets nicht mehr als drei Teller.

      Wenn sein Mütterchen doch nur ein einziges Mal sein altes, herzliches, dröhnendes Lachen wieder gehört hätte! Sie würde für dieses Lachen ihres Sohnes mit tausend Freuden den Rest ihres alten Lebens hingegeben haben.

      Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie sann sich etwas für sie Unerhörtes aus und ging daran, es auch durchzuführen. Sie mußte es heimlich, ganz heimlich anfangen; nicht einmal Anuschka durfte darum wissen – um Gottes willen nicht Anuschka!

      Aber Mischka zog sie in ihr Vertrauen. Zwar war Mischka ein rechter Nichtsnutz, war seinem guten Herrn entgegen und hielt es mit den aufrührerischen Bauern. Aberdas Mütterchen wußte sich in Gottes Namen keinen anderen Rat. Sie schenkte dem Taugenichts von Mischka einen großen Krug voll Kwas, eine große Schüssel voller Tschi mit Grütze – solchen wie Anuschka für Grischa kochte – und sonst noch allerlei Gutes und Nützliches – natürlich alles ganz heimlich! Damit nicht genug, traf sie noch andere geheimnisvollen schwierigen Vorbereitungen, alles unter fortwährendem, halblauten Beten, Seufzen, Ächzen. Auch schloß sie sich in ihr Schlafzimmer ein, packte und kramte, und das mehrere Nächte hintereinander. Darauf lockte sie Mischka zu sich, machte ihm die schönsten Versprechungen und beredete die Sache mit ihm in höchster Heimlichkeit, unter fortwährender Todesangst vor Anuschka.

      Wenn sie dahinter käme, was für große, zornige Augen würde sie dann dem armen Mütterchen machen! Gewiß wußte sie bereits alles und wartete nur den rechten Augenblick ab, um mit ihrer Entdeckung hervorzubrechen.

      Den letzten Tag vor der Ausführung des großen Planes schlich daher das Mütterchen wie eine arme Sünderin umher; fast hätte sie noch im letzten Augenblick allen Mut verloren. Aber gerade diesen Abend hatte Grischa einen so hoffnungslos traurigen Blick, war so bleich und stumm, daß das Mütterchen kaum erwarten konnte, ihren Entschluß auszuführen. Gelang ihr derselbe, so würde sie ihren Sohn wieder lachen hören, so kräftig, so herzlich!

      Am andern Morgen, lange vor Sonnenaufgang, stand die Kibitla hinter dem Lindenwald fertig und bereit. Das Mütterchen, den Kopf vierfach mit Tüchern umwickelt, in alle ihre Mäntel gehüllt, schlüpfte aus einer Seitentür des Hauses, schlich durch den Wald, ließ sich von dem ganz gleichmütig lächelnden Mischka in das Gefährt heben, empfahl ihre Seele dem Herrn, und fort ging es, auf der Moskauer Landstraße der schrecklich weiten und schrecklich großen Stadt Moskau zu. Schon bei dem Gedanken an diesen ungeheuren Sündenpfuhl war die gute Frau mehr tot als lebendig; und nun