»Verrückt geworden?«
Ich nickte. »Wenn man davon ausgeht, dass sie tagelang da unten ohne Essen und Wasser rumgeirrt ist, dann muss sie schwach und dehydriert gewesen sein. Sie war erschöpft, geistig und körperlich. Also hat sie durchgedreht.«
»Warum ist sie losgerannt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du verrückt wirst, wirst du verrückt. Vielleicht hat sie Stimmen und so in ihrem Kopf gehört.«
»Und der Schrei?«
»Sie hat die Kamera fallen lassen. Sie hatte keine Lichtquelle mehr. Sie hatte sich in vollkommener Dunkelheit verirrt. Das war der letzte Tropfen.«
»Weißt du, Will«, sagte Danièle und berührte mein Knie, »das ist eine gute Schlussfolgerung. Vielleicht hast du recht. Siehst du – es gab von Anfang an Nichts, vor dem man sich fürchten muss.«
Vorne lachte Pascal glucksend.
»Ich hatte keine Angst«, sagte ich. »Ich war besorgt – deinetwegen.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Wie siehst du das?«, fragte ich Rob.
»Hört sich an, als hättest du Angst gehabt, Boss.«
Das ignorierte ich. »Ich meine, was deiner Meinung nach mit ihr passiert ist.«
»Was du gesagt hast, ergibt Sinn«, stimmte er zu. Dann schob er mit einem Lagerfeuergrinsen nach: »Aber auf der anderen Seite ist vielleicht wirklich etwas da unten. Ein Wischmopp schwingender Toxic Avenger Mutant, der sie ausgezogen hat, sie gefickt hat, sie aufgegessen und dann ihre Knochen in einen der Räume zu all den anderen Knochen geworfen hat.«
Darüber rollte Danièle die Augen. Rob zwinkerte uns zu und trank sein Bier in einem Zug aus. Der Camper brauste durch die Nacht und Dylan sang mit seiner weichen Folk-Musik-Stimme.
***
Später, irgendwo im südlichen Vorort Port D’Orléans, hielt Pascal am Straßenrand an, sechs Meter vor einer dunklen Straßenecke, und schaltete den Motor ab.
Danièle sagte: »Wir sind da.«
Kapitel 7
Auf dem Bürgersteig neben dem Wohnmobil zogen Pascal und Danièle Watstiefel an. Rob saß auf dem Hintern und tauschte seine Schuhe mit einem Paar Gummistiefel.
»Ich wusste nicht, dass wir so Sachen brauchen«, sagte ich und kam mir plötzlich dumm vor, wie ich so in meinem schwarzen Pullover, schwarzen Jeans und taubenblauen Converse All-Stars dastand.
»An manchen Stellen steht Wasser«, sagte Danièle. »Aber mach dir keine Sorgen, es wird schon schiefgehen. Das Wichtigste ist ein Helm.«
»Den hab ich auch nicht.«
»Pascal und ich haben welche übrig. Du und Rob könnt euch einen aussuchen.«
Rob öffnete die große marineblaue Stofftasche vor ihm, die mich an meine Ausrüstungstasche aus meiner Zeit beim Prep-Football erinnerte. Er zog zwei Sicherheitshelme heraus, einen roten und einen weißen. An beiden mit LED-Stirnlampen befestigt. »Rot oder weiß, Boss?«, fragte er.
»Egal.«
Er warf mir den Roten zu. Ich fing ihn auf und drehte ihn in meinen Händen. Er war abgetragen und verkratzt. Hinten befand sich ein Aufkleber von einem Sensenmann, der der Welt seinen knochigen Mittelfinger zeigte. Entlang des Rands stand in schwarzem Filzstift: CHESS. »Wer ist Chess?«, fragte ich.
»Das ist Pascal«, sagte Danièle. »Es ist sein Katakombenname.«
Ich hätte lieber Danièles extra Helm benutzt als Pascals – ich wollte dem Kerl nicht zu Dank verpflichtet sein –, aber wenn ich Rob bitten würde, zu tauschen, müsste ich wahrscheinlich den Grund für meine Bitte erklären. »Katakombenname?«
»Jeder Kataphile hat einen oberirdischen Namen und einen Katakombennamen.«
»Trottel!«, sagte Rob, während er fest auf seinen Helm schlug und mit den Knöcheln dagegen klopfte, um dessen Intaktheit zu prüfen.
»Warum die Pseudonyme?«, fragte ich.
Danièle zuckte mit den Schultern. »In den Katakomben existiert die Welt oben nicht. Wir sprechen nicht darüber. Man ist von seinem alten Leben befreit, frei, sich selbst so neu zu erfinden, wie man will. Mit dieser neuen Identität kommt ein neuer Name.«
Ich musste zugeben, dass das nach all dem Mist, den ich in den letzten paar Jahren erlebt hatte, ziemlich verlockend klang. »Und was ist dein Katakombenname?«, fragte ich.
»Man würde es mit Storch-Mädchen übersetzen.«
Rob johlte.
»Was?«, wollte Danièle mit in die Hüfte gestemmten Fäusten wissen.
»Danny, das ist der dümmste Name, den ich je gehört hab.«
»Du bist der dümmste Mensch, den ich je getroffen hab«, erklärte sie. »Und wenn du es unbedingt wissen musst, ich hab mir den Namen nicht ausgedacht. Das war Pascal.«
Rob sagte etwas auf Französisch zu Pascal. Pascal antwortete und stellte pantomimisch einen großen Kopf dar.
»Er findet, wenn ich einen Helm trage«, erklärte mir Danièle, »dann lässt das meinen Kopf groß aussehen. Und das lässt meinen Hals klein und lang wirken, wie bei einem Storch.«
»Mir gefällt Storch-Mädchen«, sagte ich.
»Danke, Will.«
Und es stimmte. Es war niedlich. Auf jeden Fall ein besserer Spitzname als Chess. Ich vermutete, Pascal hatte sich den auch selbst ausgedacht. Er war anmaßend und verbarg gleichzeitig die Anmaßung. Als ob man sagen würde: »Ich bin ein meisterhafter Manipulator, ein Stratege, ein Genie aus eigener Kraft, Schachmatt, Arschloch«, während einem gleichzeitig, wenn man nach der Bedeutung gefragt wurde, möglich war, bescheiden zu gestehen, dass man nur ein einfacher Kerl war, der gerne Schach spielte.
»Und was ist mein Trottelname?«, fragte Rob.
»Rosbif«, sagte Danièle sofort. »Und für dich, Will, weiß ich es noch nicht. Ich werde darüber nachdenken.«
Ein Mann mittleren Alters kam am Ende der Straße um die Ecke und ging in unsere Richtung. Er führte einen braunen Dackel an einer Leine. Pascal schnallte sich einen abgenutzten Werkzeuggürtel um die Hüfte, an dem eine Mag-Lite 6D Taschenlampe und Leatherman Handwerkzeuge hingen. Er holte die letzten beiden Helme aus der Tasche, gab Danièle einen davon und warf die Tasche dann zurück ins Wohnmobil und schloss die Tür ab.
Alle traten beiseite, damit der Mann und sein Hund vorbeigehen konnten. Ich erwartete, dass er stehenbleiben und uns fragen würde, was wir vorhatten. Er nickte nur höflich und ging weiter, zog den Würstchenhund mit sich, damit er mit ihm Schritt hielt.
»Findet er uns nicht seltsam?«, fragte ich, als er außer Hörweite war. »Wir sehen aus wie Kanalarbeiter oder so.«
Danièle zuckte mit den Schultern. »Ihm ist klar, was wir tun. Viele Leute in so einem Aufzug kommen und gehen auf diesem Weg.«
Ich erspähte einen zugedeckten Kanalschacht in der Mitte der Straße. »Ist das der Eingang?«
»Nein, er liegt da drüben. Mir nach.«
Sie ging los, den Helm unter den Arm geklemmt. Ich schlang mir den Rucksack über die Schulter und folgte ihr. Wir überquerten eine Baulücke und erreichten eine bröckelnde Bruchsteinmauer. Sie war brusthoch und breit. Ich machte eine Räuberleiter für Danièle und zog mich dann selbst hinauf, sodass ich auf dem Deckstein neben ihr saß. Wir stießen uns gemeinsam ab, landeten auf schwammigen toten Blättern und kraxelten die Böschung einer abschüssigen,