»Vraiement?« Ihre Miene erhellte sich. »Nun ja … ja, oui, wenn das in Ordnung ist?«
»Wie wäre es um sieben Uhr?«
»Ja, sieben Uhr. Isch bringe Dessert.«
Auf ihre traurig-zufriedene Weise lächelnd hinkte sie in ihre Wohnung zurück, während ich in meine ging.
***
Meine schuhkartongroße Einzimmerwohnung wies einen so schockierenden Mangel an Besonderheit auf, dass es eine Besonderheit an sich war. Sie war eintönig eingerichtet, mit braunem Teppich von Wand zu Wand, einem Ei-Sessel, der älter war als ich, einem kleinen Holzschreibtisch und einem Bett mit Metallrahmen, das so kurz war, dass meine Füße über die Kante hingen. Ein Fernseher stand auf einem niedrigen Tisch in der Ecke. Er empfing nur ein paar Kanäle und ich benutze ihn kaum. Die Wände waren senfgelb und von den Löchern von Schrauben und Nägeln vernarbt, die frühere Mieter zum Aufhängen von Bildern benutzt hatten. Meine einzigen Ergänzungen waren ein Bügeleisen mit Bügelbrett, weil die Trockner im Waschsalon einen Block weiter nicht vernünftig funktionierten und meine Kleider feucht und zerknittert blieben.
Trotzdem war ich mit der Wohnung zufrieden. Sie war nicht viel kleiner als die, die Bridgette und ich uns bei der Bowery geteilt hatten. Es gab auch einen Ofen, was super war, um Tiefkühlpizzen aufzubacken, wenn ich keine Geduld dafür hatte, mir eine Pizza zu bestellen, und einen Balkon, was, wie Danièle mir sagte, in Paris ungewöhnlich war.
Ich schnappte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnete dann das Fenster, das den kleinen Hof überblickte, um den Geruch von stockfleckigem Papier hinauszulassen, der das gesamte Gebäude durchdrang. Die Luft war frühlingsfrisch und der Vermieter umrundete den Garten mit einer Harke und schuf eine Art Abflussrinne. Ich sah selten einen der Mieter dort unten. Tatsächlich sah ich, von Audry Gabin abgesehen, selten irgendeinen der Mieter irgendwo, zu irgendeiner Zeit.
Ich setzte mich in den Sessel, klappte meinen Laptop auf und ging ins Internet. Ich tippte »Paris Katakomben vermisste Person« in die Suchmaschine. Die erste Ergebnisseite bezog sich hauptsächlich auf den Teil der Katakomben unter dem Montparnasser Place Denfert-Rochereau. Das war die der Öffentlichkeit zugängliche Touristenattraktion. Gegen Eintritt konnte man hundertdreißig Stufen unter die Erde steigen und einem schwach beleuchteten Rundweg folgen, der an makabren Gassen und Säulen vorbeiführte, kunstvoll aus Schienbeinen und Oberschenkelknochen errichtet, zwischen denen immer wieder ausdruckslose Schädel eingestreut waren.
Ich versuchte einige verschiedene Suchwortkombinationen, stieß aber auf nichts, das eine vermisste Frau oder eine verloren gegangene Videokamera beinhaltete. Ich hatte gehofft, das Video zu finden, das Danièle mir gezeigt hatte, oder wenigstens einen Hinweis darauf. Das hätte bewiesen, dass Pascal Mist erzählte. Er hatte es heruntergeladen, es war ein Jux, das war alles. Unglücklicherweise deutete die Tatsache, dass es keinen Hinweis auf das Video gab, darauf hin, dass der Kerl wahrscheinlich die Wahrheit gesagt und es persönlich gefunden hatte.
Trotzdem suchte ich weiter und verlor mich darin, mehr über die lange und berühmte Geschichte der Katakomben zu erfahren. Zuerst waren sie Tunnel eines Kalksteinbruchs gewesen, die sich zweitausend Jahre auf die ersten römischen Siedler zurückdatieren ließen. Während des Kathedralenbooms des späten Mittelalters waren sie massiv erweitert worden, zogen sich wie Honigwaben unter den Arrondissements links des Flussufers und den Vororten südlich der Kernstadt her. Im späten achtzehnten Jahrhundert, lange, nachdem der Steinbruch stillgelegt worden war, war Paris zu einer überfüllten Stadt geworden. Sie besaß eine anwachsende Bevölkerung, die nach Wohnraum und Grabstätten schrie. Kirchen betrieben ihre eigenen Friedhöfe, aber sie waren überfüllt und unhygienisch. Um wertvollen Grundbesitz zu schaffen und um sich der von drei Meter tief vergrabenen Leichen, die wortwörtlich durch die Kellerwände der Menschen brachen, verursachten Gesundheitsrisiken zu entledigen, befahlen Beamte, die Gräber auszuheben – alle. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die skelettierten Überreste von sechs Millionen Toten in die verlassenen Brüche geworfen und das größte Massengrab der Welt geschaffen.
Aus Sicherheitsgründen war der Zugang seit den Fünfzigern verboten, die meisten Eingänge versiegelt, obwohl das Menschen wie Danièle und Pascal nicht abgeschreckt hatte. Sie nannten sich selbst Kataphile, ein umgangssprachlicher Name für Urban Explorers des Untergrunds …
Mein Handy klingelte plötzlich und durchbrach die lernbegierige Trance, in die ich gefallen war.
Danièle?
Ich nahm mein Telefon aus meiner Tasche und sah auf das Display. Eine unbekannte Rufnummer. Ich drücke auf Annehmen.
»Hallo?«
Keine Antwort.
»Hallo?«
»Will?«
Mein Herzschlag setzte kurz aus. »Bridgette?«
»Will, kannst du mich hören?«
»Ja, kannst du mich hören?«
»Jetzt ja. Ich schätze, wir waren verzögert.« Eine Pause. »Wie geht’s dir?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich und stand aus irgendeinem Grund auf. Eine warme Brise kam durch das Fenster und roch nach frisch geschnittenem Gras. Der Vermieter mähte mittlerweile die grüne Rasenfläche mit einem Handrasenmäher. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war zehn nach sieben. »Wie spät ist es bei dir?«, fragte ich.
»Ich mache gerade Mittagspause.«
Bridgette und ich hatten uns ein paar Emails geschrieben, seit ich New York verlassen hatte, und ich hatte ihr meine neue Telefonnummer gegeben, aber das war das erste Mal, dass sie anrief.
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber mir fiel auf, dass ich nichts zu sagen hatte. Ich kam mir vor, als wäre ich mit einem Fremden in einem Aufzug. Es erschütterte mich, wie Bridgette und ich uns einmal so nah gestanden hatten, alles miteinander geteilt hatten, und nun weniger geworden waren als Freunde. Denn Freunde hatten einander wenigstens etwas zu sagen.
»Gefällt dir Paris?«, fragte sie.
»Es ist eine nette Stadt.«
»Es ist … wie lange her?«
»Fast drei Monate.«
»Und der Stadtführer?«
»Wird. Ich werde wahrscheinlich noch ein paar Monate brauchen.«
»Und dann?«
»Ich glaube, sie wollen, dass ich den Barcelona-Führer überarbeite.«
»Spanien! Sehr schön. Es freut mich, dass du glücklich bist.«
Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht sicher war, ob ich glücklich war, aber ich tat es nicht.
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Alles okay?«
»Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss, Will.« Sie zögerte. Es waren vielleicht nur ein oder zwei Sekunden, aber für mich fühlten sie sich wie eine Ewigkeit an. In diesem Moment war ich davon überzeugt, dass sie mir sagen würde, dass sie wieder mit mir zusammen kommen wollte. Sie sagte: »Ich hab jemanden kennengelernt.«
Plötzliche wurde mir ganz heiß. Ich starrte weiter aus dem Fenster, obwohl ich den Hof nicht länger sah. Alles außer Bridgettes Stimme war nebensächlich geworden. »Du meinst einen festen Freund?«
»Ja.«
Ich rührte mich noch immer nicht. Ich war taub. Gefühlsmäßig taub.
Warum zum Teufel erzählte sie mir das?
»Einen Anwalt?«, fragte ich, von der Normalität in meiner Stimme überrascht.
»Er ist Polizeibeamter.«
»Ein Bulle?«
»Ja.«
»Hm. Tja …«
»Will, wir haben uns gerade verlobt.«
Ich