»Pascal kennt …«
»Du setzt ganz schön viel Vertrauen in diesen Kerl.«
»Er ist mein Freund. Er ist der erfahrenste Kataphile, den ich kenne. Ich vertraue ihm voll und ganz.«
Ich sagte nichts.
»Also?«, drängte sie.
»Nein, Danièle. Absolut nicht.«
»Es wird lustig.«
Ich versteifte mich, als mich diese Aussage in die Nacht am Lake Placid zurückversetzte. Tun wir’s, Kumpel, hatte Brian nur Minuten vor seinem Tod zu mir gesagt, während er mir die Schlüssel zum Chris-Craft zugeworfen hatte. Das wird lustig.
»Was kann ich sagen, das dich überzeugt, mitzukommen?«, fragte sie.
»Sei kein gottverdammter Idiot, Danièle!«, blaffte ich und sah sie wütend an.
Sie starrte zurück, überrascht und verwirrt. Dann trotzig. Abrupt klappte sie den Laptop zu, stopfte ihn in ihre Tasche. Sie zog einen Stift heraus und kritzelte eine Adresse auf eine Serviette.
»Falls du es dir anders überlegst«, sagte sie steif und stand auf, »ich werde zwischen acht und neun Uhr heute Abend dort sein.«
Sie stieg auf ihr Fahrrad und radelte davon.
***
Mein Mietshaus lag in einer ruhigen Straße nahe dem Viertel Saint Germain und dem Jardin des Plantes. Saint Germain war lebhaft und voller Restaurants und Bars, aber ich vermied die Gegend meistens, weil ich nicht viele Menschen in Paris kannte, und ich war nicht der Typ dafür, alleine zu essen oder zu trinken, zumindest nicht außerhalb der Arbeit. Der botanische Garten war allerdings eine andere Geschichte. Ich verbrachte jede Menge Zeit in den eintrittsfreien Bereichen, spazierte über die Pfade, um etwas Bewegung zu bekommen, oder las ein Buch im Gras oder auf einer Bank im Schatten eines Baumes.
Ich stieg die Stufen zu meinem Hauseingang hinauf und sah in meinen Briefkasten. Er war einer von sechs, die in zwei senkrechten Reihen zu jeweils drei Stück angeordnet waren. Eine Schlüsseldienstwerbung steckte darin. Ich erhielt mehrere davon pro Woche, von verschiedenen Schlüsseldiensten. Es ließ sich mich mir die Frage stellen, ob sich die Pariser im Vergleich zu Menschen in anderen Metropolen unverhältnismäßig oft aus ihren Häusern ausschlossen. Neben der Reihe der Briefkasten befand sich ein Schild, auf dem stand: »2e étage sonnez 2 fois.« Für den zweiten Stock zweimal klingeln. Ich wohnte im zweiten Stock, aber keiner hatte jemals bei mir angeklingelt. Na gut, abgesehen vom Pizzamenschen. Ich bestellte zwei oder drei Mal in der Woche bei Dominos. Die Pizzen in Frankreich waren kleiner als die, die man zu Hause in den Staaten bekam, und auf manchen waren merkwürdige Käsesorten, aber sie waren trotzdem gut.
Ich betrat die Eingangshalle und machte mich auf den Weg durch das knarrende Holztreppenhaus in den zweiten Stock. Ich war halb durch den Flur, als sich eine Tür öffnete und meine Nachbarin, Audrey Gabin, nach mir rief. Sie war eine gebückte, zerbrechliche Frau, die auf die Neunzig zuging. Sie trug eine modische Brille mit schwarzem Rahmen und hatte volles, braunes Haar, das eine Perücke sein musste. Wie immer, war sie makellos gekleidet. Heute trug sie ein kürbisgelbes Ensemble, einen Hut mit lila Krempe und einen dazu passenden lila Schal.
Sie erwischte mich beinahe jeden Tag, wenn ich an ihrer Wohnung vorbeiging. Ich hatte die Theorie entwickelt, dass sie sich entweder meine Routine gemerkt hatte, oder dass sie bei der Tür saß und geduldig darauf wartete, dass ich nach Hause kam. Für mich war sie der Typ Miss Havisham. Obwohl sie weder eine alte Jungfer noch rachsüchtig war, war sie einsam und todunglücklich, und verbrachte den ganzen Tag lang einsiedlerisch drinnen. Im Grunde wäre ich nicht überrascht zu erfahren, dass sie alle ihre Uhren zum genauen Todeszeitpunkt ihres Ehemanns vor fast zwei Jahrzehnten gestoppt hatte.
»Bonjour, Madame Gabin«, grüßte ich.
»So schön, der Tag, finden Sie nischt?«, fragte sie durch die linke Seite ihres Mundes. Die teilweise Gesichtslähmung, hatte sie mir erzählt, war das Ergebnis eines Schlaganfalls, den sie vor einiger Zeit in einem Zug nach Bordeaux auf dem Weg zur Beerdigung ihrer Schwester erlitten hatte.
»Wirklich schön«, stimmte ich zu, ein bisschen lauter als im Plauderton, weil sie nicht gut hörte. »Die perfekte Temperatur.«
»Un moment. Isch ‛abe etwas für Sie.«
»Nein, Madame …«
Aber sie war wieder in ihrer Wohnung verschwunden. Ein paar Augenblicke später kam sie mit einem Teller voll Pfannkuchen in der Hand zurück. Sie hatte immer die ein oder andere Süßspeise für mich.
»Sie müssen echte französische Crêpe probieren«, sagte sie. »Isch mache etwas …« Einen Moment lang schien sie es vergessen zu haben. »Ah, oui. Isch mache ein kleines bisschen Grand Marnier ‘inein.«
Ich nahm ihr den Teller ab, der angefangen hatte, in ihren Händen zu beben. »Sie werden mich noch dick machen.«
»Isch ‘offe es! Sie sind très dünn. Sie müssen essen.«
Ältere Menschen liebten es, diesen Rat zu geben. Meine Großeltern hatten mir jedes Mal, wenn ich sie als Heranwachsender sah, dasselbe gesagt. Und ich hatte sie oft gesehen. Sie hatten ein paar Blocks von meiner Familie entfernt in Seattle gewohnt. Selbst in meinen späten Teenagerjahren, als mein ein Meter fünfundneunzig großer Körper seinen Höhepunkt bei über neunzig Kilogramm erreicht hatte, gab mir meine eine noch lebende Großmutter Schokolade, wann immer ich sie in der Bayview Retirement Community besuchte, und sagte mir, ich müsse etwas Speck auf die Rippen bekommen.
Madame Gabin hatte jedoch recht. Ich hatte in letzter Zeit sehr viel Gewicht verloren und konnte zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben als hager beschrieben werden. Neuerdings war ich einfach nicht hungrig. Ich wusste nicht, ob mein verminderter Appetit davon kam, dass ich wieder angefangen hatte zu rauchen, oder weil ich mit den Dämonen der Depression kämpfte. Ich nahm an, es war eine Mischung aus beidem.
»Ich werde alles aufessen«, versicherte ich ihr. »Das sieht köstlich aus.«
»Roland, der liebte seine Crêpes. Isch machte sie für ihn jeden Morgen.«
Roland Gabin, der längst verstorbene Ehemann, hatte im Zweiten Weltkrieg Spitfires geflogen und dann die nächsten vierzig Jahre im Beamtenstand verbracht, bis sein Herz im Alter von vierundsechzig den Dienst versagte.
Ich sagte: »Er hatte Glück, Sie zu haben.«
Madame Gabin nickte, aber ihre Augen waren verschleiert, als hätte sie sich in der Vergangenheit verloren. Arme Frau, dachte ich. Sie hatte niemanden. Zumindest hatte ich nie gesehen, dass sie jemand besucht hatte, seit ich ihr Nachbar geworden war. Keine Kinder, keine Enkelkinder. Falls, oder eher wenn sie in ihrer Wohnung sterben würde, würde sie vermutlich unentdeckt dort liegen, in ihrem Bett oder in ihrem Sessel oder wo auch immer verwesen, bis jemand – ich? – einen merkwürdigen Geruch bemerken würde. Es war ein unwürdiges Schicksal für eine Lady, von der ich annahm, dass sie in ihren besten Jahren so hinreißend und charmant wie ein Filmstar gewesen war.
»Tja, danke«, sagte ich und hielt den Teller in die Höhe.
Sie blinzelte. »Oui. De rien.«
Ich machte mich auf den Weg zu meiner Wohnung und stoppte dann. Madame Gabin stand noch immer vor ihrer Eingangstür und starrte in mittlere Ferne.
»Madame Gabin?«
Sie antwortete nicht.
»Audrey?«
Sie drehte mir langsam den Kopf zu.
»Was machen Sie morgen Abend?«
»Morgen?«
»Ich habe in letzter Zeit französisch Kochen geübt. Ich glaube, ich hab den Dreh von ein paar Gerichten raus, aber ich hätte gerne etwas Feedback. Möchten Sie zum Abendessen kommen?«