SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt). Jeremy Bates. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jeremy Bates
Издательство: Bookwire
Серия: Die beängstigendsten Orte der Welt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351820
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meine Neugier geweckt. Außerdem war der Einwand dieses Kerls ja irgendwie berechtigt. Da wir schon einen so weiten Weg zurückgelegt hatten: Warum sollten wir jetzt aufhören? Um herauszufinden, was quasi hinter der letzten Biegung lag, mussten wir nur noch ein kleines Stückchen weitergehen. Anschließend konnten wir ja ein Lager aufschlagen, etwas essen und ein bisschen relaxen, bevor wir tags darauf, mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, umkehren würden.

      Mel erkannte wohl an meinen Augen, dass ich mich festgelegt hatte, und gab widerwillig nach. »Nur noch eine weitere Stunde«, sagte sie, »und dann ist Schluss.«

      »Nur noch eine weitere Stunde«, wiederholte Ben lächelnd. »Also gut – Nina und ich, wir gehen links entlang. Wer will uns begleiten?«

      »Bin dabei«, antwortete John Scott. Er trat seine Zigarette aus, sagte: »Bis später«, zu uns beiden und machte sich dann auf den Weg wie ein pflichtbewusster Pfadfinder, der sich sein nächstes Leistungsabzeichen verdienen wollte.

      Die Israelis winkten zum Abschied und folgten ihm.

      »Da waren's nur noch vier …«, meinte Neil leise.

      Kapitel 6

      Auf unserem Weg wurde das Gehen nun immer schwieriger und langsamer. Dies hatte allerdings weniger mit etwaigen Hindernissen durch die Bäume zu tun als mit der Bodenbeschaffenheit. Alle paar Yards mussten wir über verrottende Stümpfe, abgefallene Äste und Vulkangestein steigen. Ich versuchte, mich an Jungbäumen festzuhalten und abzustützen, womit ich diese aber oft aus dem lockeren Boden zog, und zwar mühelos wie die Schenkel vom Rumpf eines Brathähnchens. Wie sich herausstellte, war das weitläufige Netz aus unterirdischen Lavaröhren die größte Gefahr. Wir kamen an zwei Stellen vorbei, wo das erstarrte Magma unter dem Gewicht eines Baumes in einen dieser Tunnel gestürzt war und zerklüftete Krater mit einem Durchmesser von zwanzig Fuß aufgerissen hatte. Wir machten deshalb einen großen Bogen um die bemoosten Senken, die mit Geröll gefüllt waren. Falls man hineinfiel und dabei nicht umkam, verletzte man sich nämlich garantiert schwer an den spitzen Felsen und verblutete wahrscheinlich, bevor man Hilfe von außerhalb bekommen konnte.

      Das einzig Positive, dass sich aus dieser heiklen Landschaft ergab, waren meine hohe Konzentration auf das Gelände und meine Schritte, weshalb ich mir kaum Sorgen über etwaige Erhängte oder die zusehends heraufziehende Dunkelheit machen konnte.

      Als wir verdientermaßen endlich eine Pause machten, nahm ich meine Wasserflasche aus dem Rucksack und ließ sie herumgehen. Sie wurde mir fast leer zurückgegeben. Ich trank den Rest aus, in der Gewissheit, dass Mel noch einen halben Liter in ihrer Tasche hatte, was bis zum morgigen Tag locker reichen würde.

      Tomo stellte sich zum Pinkeln hinter einen Baum. Ich beschloss, mich ebenfalls zu erleichtern. Während ich mit dem Rücken zu den anderen auf einem Baumstumpf stand und hinaus in den Wald blickte, gelangte ich zu einer ernüchternden Erkenntnis: Falls wir hier unsere Orientierung verlieren würden, könnten wir uns heillos verirren. Die Schilder hatten uns natürlich bereits davor gewarnt, und auch von Mel war dieser Hinweis gekommen, doch ich hatte die Möglichkeit bis jetzt nicht wirklich in Betracht gezogen.

      Verirrt im Selbstmordwald.

      Tomo und ich kehrten gleichzeitig zu den anderen beiden zurück. Er schnallte gerade noch seinen Gürtel zu und brüstete sich damit, dass sein Penis länger geworden sei, seit er zuletzt Wasser gelassen hatte. Neil witzelte herum, dass das Ding von vornherein ziemlich winzig gewesen sein müsste.

      »Wie fühlt ihr euch?«, fragte ich in die Runde.

      »Ich bin müde«, antwortete Mel.

      »Ich hungrig«, sagte Tomo und Neil stimmte zu: »Hungrig und müde.«

      Ich nickte. »Noch etwa eine halbe Stunde, dann kehren wir um und essen was.«

      Mel drehte sich in die Richtung um, aus der wir gekommen waren. »Bist du dir sicher, dass du dir die Strecke zurück eingeprägt hast?«

      »Ja, das habe ich«, beteuerte ich.

      »Denn falls wir auch nur ein wenig davon abweichen …«

      »Ich kenne den Weg«, betonte ich.

      »Na ja, wir könnten im Notfall auch immer noch nach den anderen rufen.«

      Das stimmte. Würden wir das tun, wären John Scott und die Israelis bestimmt in der Lage, uns zu hören. Mel konnte ihn außerdem auf seinem Handy anrufen und ihn bitten, ihrerseits zu schreien, damit wir sie fanden. Dies wäre allerdings furchtbar peinlich für uns, und ich war überzeugt davon, dass es nicht nötig sein würde.

      Wir gingen wieder weiter in die Richtung, die uns der Wegweiser gezeigt hatte.

      Nur wenige Minuten später keuchte ich wieder. Ich war zum ersten Mal froh, dass ich das Rauchen aufgegeben hatte. Im Hinterkopf hörte ich bereits Mels Stimme: »Siehst du? Ich habe dir doch gesagt, dass du am besten aufhören solltest.« Das war so eine Masche von ihr. Wenn wir in einem Restaurant aßen und es sich schließlich als gute Wahl erwies, sagte sie: »Siehst du? Ich sagte dir doch, lass uns am besten hierher gehen.« Das Gleiche geschah auch, wenn wir uns einen besonders unterhaltsamen Film anschauten. »Siehst du? Ich sagte dir doch, das ist der Beste, den wir uns ansehen können.«

      Tomo hob eine lange Ranke vom Boden auf, die weiter in die Ferne reichte, als wir sehen konnten. »Orientieren wir uns doch einfach daran«, schlug er vor. »So verirren wir uns nicht.«

      Weniger als fünf Yards weiter kreischte er plötzlich schrill und ließ den Pflanzenstrang fallen.

      »Was ist denn los?«, fragte ich in der Annahme, er sei von irgendetwas gebissen worden.

      Er schnupperte an seinen Händen. »Sie hat mich angepinkelt!«

      »Wer?«

      »Fühl mal!«

      Ich fasste die Ranke vorsichtig an. Sie war rau und trocken.

      »Da!« Tomo zeigte auf eine Stelle weiter unten am Stamm.

      »Ja, jetzt seh ich's auch«, sagte ich mit einem Blick auf den Fleck, der etwa sechs Zoll breit war und mit einer Flüssigkeit bedeckt zu sein schien. Mehr Nässe entdeckte ich allerdings nicht.

      »Riech mal daran!«, verlangte Tomo.

      Das tat ich. Es roch schwach nach Ammoniak.

      »Stinkt tatsächlich nach Urin«, teilte ich Mel und Neil mit, die Tomo und mich anstarrten, als seien wir sprechende Affen.

      »Na und?«, fragte sie. »Ein Tier …«

      »Hast du hier etwa Tiere gesehen?, erwiderte Tomo. »Wo denn? Ich auf jeden Fall nicht.«

      »Woher sollte das denn sonst stammen?«

      »Ich pisse in den Wald und der Wald pisst auf mich.«

      Neil räusperte sich. »Bitte, Tomo.«

      »Stimmt doch! Riech doch selbst!«

      »Vergiss es.«

      Tomo wandte sich mir zu. »Leck mal daran.«

      Ich verdrehte die Augen und ging weiter.

      Eine Kletterpflanze, die sich dafür rächte, dass wir in den Wald uriniert hatten. Was für ein Quatsch.

      Ich war vorübergehend dazu geneigt, an Übersinnliches zu glauben: Ein empfindsamer Wald, der Menschen und Tiere in sein Innerstes lockt, indem er natürliche Friedlichkeit und Ruhe vorspiegelt, sich dann aber, nachdem sie sich rettungslos verirrt haben und gestorben sind, an ihren toten Körpern weidet. Sollte ich je Buchautor werden, würde ich die Geschichte Fleischfressender Wald oder vielleicht Der Wald, die Fliegenfalle nennen. Dazu bräuchte ich dann eine große Gruppe von Figuren, damit er diese nach und nach dezimieren könnte. Der Hauptcharakter musste natürlich irgendwie überleben und den Wald letztendlich bezwingen. Bei diesem Gedanken blieb ich eine ganze Weile hängen, denn wie sollte das funktionieren, außer er würde das gesamte Gebiet niederbrennen? Andererseits sah ich letztendlich