»In einem rabu hoteru, falls du es genau wissen willst.«
»Ha, und wo genau?« Das sind Stundenhotels mit greller Neonbeleuchtung, deren Zimmer man entweder für drei Stunden oder für eine ganze Nacht mieten konnte. Man wählt den jeweiligen Raum per Tastendruck aus und zahlt dann, indem man sein Geld durch ein Rohrpostsystem jagt oder in irgendwelche mysteriöse Hände drückt, die unter einer Milchglasscheibe aufgehalten werden. Im Laufe der Jahre hatten Mel und ich um der Erfahrung willen in mehreren solchen Etablissements übernachtet. Die Zimmer waren mit drehbaren Betten, Deckenspiegeln, Karaoke-Anlagen, Whirlpools oder Automaten eingerichtet gewesen, aus denen man alles von Bier über Sadomaso-Werkzeug bis hin zu getragenen Frauenschlüpfern ziehen konnte.
»In dem einen in Shibuya, wo wir auch schon gewesen sind. In dieser schmalen, zugigen Straße, weißt du nicht mehr?«
»Doch, ich erinnere mich daran.« Ich glaube, die Gegend hieß Love Hotel Hill. In unserem Zimmer hatte es aus den gleichen Gründen wie in Kasinos keine Fenster gegeben. »Dort stehen so einige Hotels. Wohnt er in demselben wie wir damals?«
»Ich hab es ihm empfohlen.«
Das machte mich stutzig. »Wie lange wusstest du denn schon, dass er Tokio besuchen will?«
»Mehrere Tage im Voraus, bevor er ankam.«
»Hast du ihn deshalb eingeladen, uns auf den Fuji zu begleiten?«
»Ich habe ihm erzählt, dass wir es vorhaben. Er meinte daraufhin, dass er schon oben gewesen sei und etwas anderes vorhabe. Gestern Abend bekam ich dann aber plötzlich eine SMS von ihm, in der er schrieb, dass sich seine Pläne zerschlagen hätten.«
Ich starrte geradeaus. John zog noch einmal an seiner Zigarette, woraufhin der Qualm zurück zu uns wehte.
»Wie findest du seine Jacke?«, fragte ich nun.
»Was stört dich denn daran?«
»Er zieht so etwas an … auf einer Bergwanderung?«
»Er hat ja nicht damit gerechnet. Ich habe es nur nebenbei erwähnt. Wahrscheinlich ist es die einzige Jacke, die er dabeihat.«
Schön und gut, dachte ich. Trotzdem wollte ich es nicht einfach darauf beruhen lassen. Mir gefiel das Verhältnis zwischen Mel und ihm überhaupt nicht. Vielleicht reagierte ich auch übertrieben, keine Ahnung, aber irgendetwas an ihm kam mir einfach nicht geheuer vor.
Darum verhörte ich sie weiter: »Woher stammt er denn?«
»Warum willst du das alles wissen?«
»Weil ich eifersüchtig bin!«
»Heilige Muttergottes, ich habe dir doch gesagt, dass wir zusammen zur Schule gegangen sind.«
»Und wie lautet sein Nachname?«
Mel schaute mich argwöhnisch an.
»Also … wie?«, beharrte ich.
»Scott, Mensch!«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Soll das ein Witz sein?« Ich hatte gedacht, John Scott sei ein Doppelname … so wie Billy Bob.
»Nein, das ist sein Nachname.«
Ich kam nicht umhin, darüber zu lachen. Das tat gut – teils, weil es so verflixt düster im Wald war, aber umso mehr, schätze ich, weil ich mich so über John lustig machen konnte.
»Was ist denn daran so witzig?«, fragte sie verwirrt.
»Wer stellt sich denn bitte direkt mit seinem Vor- und Nachnamen vor?«
»Viele.«
»Bei einem Geschäftsmeeting vielleicht. Nennst du ihn denn auch John Scott?«
»Nur Scott.«
»Und andere Leute?«
»Damals in der Highschool wurde er Scotty gerufen. Wie es jetzt ist, weiß ich nicht.«
»Das ist ja so, als würde man mich Ethan Childs nennen.«
»Er hat nicht verlangt, dass du seinen Nachnamen mit dranhängst. Das war deine eigene Entscheidung.«
»Nun gut, würde ich ständig Ethan Childs genannt werden, würde ich die Leute garantiert darauf hinweisen, dass Ethan vollkommen reicht. Wofür hält er sich denn bitteschön: einen Prominenten?«
»Warum regst du dich seinetwegen so auf?«
»Das tue ich doch gar nicht, ich …«
»Hey, seht mal da!«, rief Ben plötzlich.
Ich bekam augenblicklich Angst. Hatten sie einen Toten entdeckt? Jemanden an einem Strick, tot und kalt und …
Es war ein Schuh, nichts weiter. Nur ein einzelner, weißer Schuh.
Er lag etwa zehn Fuß weit vom Wegrand entfernt neben einem moosbewachsenen Felsbrocken.
Ben und John Scott gingen darauf zu.
»Nike«, erklärte Ben.
Wir anderen rückten nach. Es handelte sich um einen Männerschuh, Größe acht oder neun. Die Schnürsenkel fehlten.
Ich schaute mich wieder um, sah aber sonst nichts, was auf die Anwesenheit von anderen Menschen hindeutete.
»Glaubst du, der gehört jemandem … du weißt schon?«, fragte Mel. »Jemandem, der sich umgebracht hat?«
»Wem sollte er sonst gehören?«, erwiderte John Scott. Ich überlegte, ob ich mir seinen Nachnamen von nun an wegdenken sollte, blieb aber letztlich dabei. Mich amüsierte es nach wie vor, dass er sich eine untrennbare Verbindung von Vor- und Nachnamen gefallen ließ, wie Tom Cruise oder andere Stars. »Jedem Wanderer würde doch garantiert auffallen, wenn er einen Schuh verliert.«
»Aber genauso jemandem, der Selbstmord begehen will«, wandte ich ein. »Wir reden hier schließlich von einem Menschen, nicht von Zombies.«
»Und wo sind die Schnürsenkel?«, fragte Mel.
»Vielleicht hat er sie ja dazu benutzt, um sich zu erhängen«, legte Neil nahe.
Das bezweifelte ich doch stark. »Mit Schnürsenkeln?«
»Wisst ihr, was ich denke?«, warf Tomo ein. »Dass ein Tier den Träger gefressen hat.«
Ben schüttelte den Kopf. »Dann würden wir doch auch Knochen und Kleiderfetzen finden.«
»Vielleicht hat es ihn ja verschleppt, und der Schuh ist eben dabei abgefallen.«
»Das gefällt mir gar nicht«, gab Mel zu.
Ich erkundigte mich: »Gibt es denn hier in der Gegend Bären, Tomo?«
»Ja, Mann«, entgegnete er. »Voll viele.«
»Ich mein's ernst.«
»Ja, gibt es«, bestätigte Neil. »Ich habe Berichte von Wanderern gelesen, die beim Besteigen des Fujis welche gesehen haben. Bären greifen aber nur sehr selten Menschen an, außer man stellt sich zwischen sie und ihre Jungen.«
»Ich behaupte ja nicht, dass ein Bär ihn oder sie lebendig gefressen hat«, relativierte Tomo. »Ich meinte tot.«
»Spielt es denn eine Rolle, was genau passiert ist?« John Scott winkte ungeduldig ab. »Wir stellen hier doch nur Mutmaßungen an, und das ist nichts weiter als Zeitverschwendung. Ich will endlich einen Toten sehen.« Er machte sich wieder auf den Weg, um tiefer in den Wald zu gelangen.
Nach kurzem Zögern folgten wir ihm.
Kapitel 5
Es wurde auf einmal merklich dunkler, und zwar erschreckend schnell. Kurz vorher hatte man zwischen den verzweigten Baumkronen noch stellenweise den deckend grauen Himmel gesehen, doch jetzt ließ sich durch die zunehmend dichter zusammengestauchten Wipfel wenig, bis gar nichts mehr davon