An vierter Stelle stehen wohl die Läufer, deren Bezeichnung sich von ganz allein erklärt: Sie laufen vor irgendetwas davon.
In diese Kategorie passten Mel und ich. Ich flüchtete vor Garys Tod, während sie endlich den Ruf ihrer Familie abschütteln wollte.
Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie in ihrem Abschlussjahr an der Universität von Kalifornien gewesen war. Bald darauf hatte ihre Mutter etwas mit einem anderen Mann angefangen. Kaum dass ihrem Vater dies zu Ohren gekommen war, hatte er sich Zugang ins Haus ihres neuen Mackers verschafft und diesen mit einer Plastiktüte erstickt. Schließlich war er von der Polizei von San Diego, einer Spezialeinheit zur Festnahme Flüchtiger, aufgespürt worden und saß nun mit einer lebenslänglichen Haftstrafe im Staatsgefängnis Corcoran – demselben Drecksloch, wo auch Charles Manson seine letzten Daseinsjahre fristet.
Nach Mels Abgang von der Uni war sie nach St. Helena zurückgekehrt, um bei ihrer Mutter zu bleiben, doch der Mord hatte sich unaufhaltsam in den Köpfen der Stadtbewohner festgesetzt. Andauernd war sie bedrängt worden und schließlich nach einem Monat nach Japan geflohen, um sich dem Ganzen zu entziehen.
Man kann allerdings nicht ewig davonlaufen, und obwohl sie nun deutlich machte, dass sie wieder in die Staaten ziehen wollte, hätte ich mir nie vorstellen können, dass sie damit auch ihre alte Heimatstadt meinte.
Jetzt sah sie mich gespannt an und wartete auf meine Antwort.
»Wir können nicht dorthin zurück«, sagte ich.
Da wurde ihr Blick sofort finster. »Wieso nicht?«
»Das weißt du genau.«
»Das ist doch jetzt schon ewig her. Menschen vergessen.«
»Nicht in Kleinstädten!«
»Ich habe nichts verbrochen.«
»Das spielt dabei keine Rolle.«
»Die Stadt ist wunderschön.«
»Es gibt viele schöne Städte, Mel. Warum gerade St. Helena?«
»Weil meine Mom einsam ist«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen. »Ich glaube, sie würde sich wünschen, dass ich wieder in ihrer Nähe bin.«
Ich wurde panisch. »Du willst, dass wir bei deiner Mutter wohnen?«
»Selbstverständlich nicht, aber zumindest in der Nähe. Ich könnte sie dann mehrmals wöchentlich besuchen.«
»Gibt es in St. Helena überhaupt Schulen, wo wir arbeiten könnten?«, fragte ich diplomatisch.
»Denkst du, ich sei zu Hause unterrichtet worden? Die Highschool dort hat eine Schülerzahl von knapp fünfhundert.«
»Und wie hoch stehen die Chancen dafür, dass dort eine Stelle frei ist, geschweige denn gleich zwei?«
»Nachfragen kostet doch schließlich nichts, oder?«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, machte ihn aber gleich wieder zu. Ausgerechnet in diesem Wald und in dieser Situation wollte ich nicht mit Mel streiten, weshalb ich einfach verhalten die Schultern hochzog.
Ihren darauffolgenden Blick konnte ich nicht wirklich deuten. Sie ging schneller weiter und ließ mich hinter sich zurück, woraufhin ich mir die kommenden fünf Jahre in St. Helena ausmalte, umgeben von Flieder, Stiefmütterchen und vielleicht einem wütenden Mob, dem der Sinn nach Lynchjustiz stand.
Wir waren mittlerweile mehr als anderthalb Stunden unterwegs, und ich gewöhnte mich gerade an die unterschwellig bedrohliche Fremdartigkeit des Aokigaharas, als der Pfad abrupt vor zwei auf groteske Weise zusammengewachsenen Bäumen endete, die mich gleichzeitig faszinierten und abstießen.
Sie standen eng umschlungen da wie mit sich ringende Schlangen, als hätten sie sich über Jahrzehnte hinweg zum Himmel hochschrauben wollen, nachdem ein anderer Baum umgestürzt war und den Platz freigegeben hatte. Sie verkörperten perfekt den erbarmungslosen Überlebenskampf um jeden Preis, der diesen Wald allerorts prägte, und bestätigten außerdem meinen Eindruck, dies sei ein grausamer, urzeitlicher und unwirtlicher Ort – ein Stück Hölle auf Erden –, selbst für die Flora.
Wie es aussah, hatte jemand auf ungefähr zehn Fuß Höhe einen weißen Pfeil an die beiden Stämme gemalt. Diese zeigten allerdings in entgegengesetzte Richtungen.
»Sind das Wegweiser?«, fragte Mel mit zweifelndem Unterton.
»Ich nehme mal an, die Polizei hat sie gemalt«, meinte Neil, »um andere Routen zu finden.«
»Oder Leichen«, entgegnete ich.
Die anderen schauten mich ernst an.
»Meinst du echt, die führen zu irgendwelchen Toten?«, erwiderte Mel.
»Jetzt vielleicht nicht mehr«, räumte ich ein. »Die Polizei dürfte sie mittlerweile beseitigt haben.«
»Also gut, wo gehen wir entlang?«, fragte John Scott, während er sich eine neue Zigarette ansteckte.
»Ich finde, wir sollten diesen Pfad nicht verlassen«, entgegnete Mel.
»Wir gehen ja nicht weit«, versicherte er ihr.
Ben nickte. »Wir werden uns einfach aufteilen. Die eine Hälfte geht eine Stunde lang links entlang, die andere rechts. Falls eine Gruppe etwas entdeckt, meldet sie sich bei der anderen.«
Mel und ich schauten schnell auf unsere Handydisplays. Wir hatten beide Empfang.
»Und was ist, wenn niemand etwas entdeckt?«, fragte sie.
Ben antwortete gleichmütig: »Dann treffen wir uns in zwei Stunden wieder hier.«
»Dann sind wir uns also einig?«, hakte John Scott nach.
»Ja, Mann«, bestätigte Tomo.
Er nickte Neil zu. »Was denkst du, Dicker?«
Neil schaute geistesabwesend in den Wald hinein. »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Ort angeht.«
»Klar, er ist ja auch verdammt unheimlich. Wir alle gruseln uns, aber jetzt sind wir schon so weit gekommen, dass wir irgendetwas finden müssen.«
»Mensch, das ist es ja: Ich will ja gar nichts finden.«
»Du möchtest keine Leiche sehen?«
»Wir haben hier nichts zu suchen! Was wir tun, ist nicht in Ordnung, es ist respektlos.«
Mel nickte bestätigend.
»Will noch jemand den Schwanz einziehen?«, fragte John Scott herausfordernd.
Das ärgerte Neil. »Ich ziehe nicht den Schwanz ein.«
»Dann komm doch mit.«
»Ja, Mann«, pflichtete ihm Tomo bei. »Sei kein Feigling.«
Neil warf die Hände hoch. »Ich bin kein Feigling! Und falls ihr zwei dann den Mund haltet, okay, dann komme ich eben mit.«
»Hurra!«, brüllte John Scott wie ein Schwachsinniger. Danach schaute er Mel und mich an.
Wenngleich