Ich schluckte meine Angst hinunter und rief ruhig: »Nicht bewegen, Mel. Tu überhaupt nichts. Wir kriegen dich da schon wieder raus.« Dann drehte ich mich zu Neil um und sagte: »Gib mir deine Taschenlampe.«
Er kramte sie aus seinem Rucksack und reichte sie mir, woraufhin ich sie einschaltete und in den gähnenden Krater hielt. Mel hatte die meisten Wurzeln und toten Ästen mit sich in die Tiefe gerissen, mit denen der Krater bedeckt gewesen war, weshalb wir nun ungehindert hineinschauen konnten. Der Schacht führte nicht senkrecht hinunter, sondern schraubte sich um seine vertikale Achse, was an die Pappe in einer Rolle Toilettenpapier erinnerte, bloß aufgerollt und dann wieder zusammengedreht. Mel stand fünfzehn bis zwanzig Fuß unter uns auf einem schmalen Vorsprung, wo auch jede Menge heruntergefallener Dreck lag. Sie presste sich fest mit dem Bauch gegen die Steinwand und hatte die Arme seitlich ausgestreckt.
Unter ihr ging es noch tiefer hinab in die Dunkelheit.
»Grundgütiger«, stöhnte Neil.
Ich biss mir auf die Zähne.
»Wie tief ist es noch unter mir?«, rief Mel, die sich kein bisschen bewegen wollte, um selbst nachzuschauen.
Ich tat so, als ob ich sie gar nicht gehört hätte. »Sucht nach einer langen Liane oder so etwas in der Art!«, trug ich Neil und Tomo auf, bevor ich mich wieder an Mel richtete: »Wir holen etwas, woran du hochklettern kannst. Du kommst schon wieder da raus.«
»Beeilt euch, Ethan.«
»Beweg dich nicht. Bleib einfach so stehen, bis wir was gefunden haben – halt dich gut fest.«
Ich lief zu Neil und Tomo, die ungefähr zehn Meter hinter mir an einigen verknoteten Ranken zerrten, um eine davon von den Baumstümpfen und Ästen zu reißen, wo sich ihre Triebe vor langer Zeit festgeheftet hatten.
Nun nahm ich meinen Rucksack ab und suchte im oberen Fach nach dem Schweizer Taschenmesser, das ich mitgenommen hatte. Nachdem ich die kurze Klinge ausgeklappt hatte, machte ich mich an den Holzfasern der Liane zu schaffen und schnitt sie mehrere Zoll über der Stelle durch, wo sie aus dem Boden ragte. Sie war etwa doppelt so dick wie ein Gartenschlauch, weshalb ich dazu fast eine Minute brauchte.
Dann stand ich hastig auf und schaute nach oben. Das abgetrennte Stück baumelte nun an einem Gewirr aus Zweigen und anderen Lianen. Gemeinsam mit Tomo wandte ich meine ganze Kraft dafür auf, sie herunterzuziehen, aber es ging einfach nicht.
»Mist«, schimpfte ich und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Dann fiel mein Blick auf Neil. Dieser nahm gerade sein Zelt aus dem Nylonbeutel. Neben einem Fliegengitter aus Polyester fielen Metallstangen, mehrere Heringe und Spannleinen heraus.
Spannleinen!
Es waren vier Stück, jedes ungefähr fünf oder sechs Fuß lang.
»Klasse Neil!«, rief ich begeistert.
»Wir verbinden sie miteinander«, sagte er. »Das müsste eigentlich reichen, um sie hochzuziehen.«
»Mel! Wir haben ein Seil«, ließ ich sie wissen. »Du kriegst es gleich runtergeworfen!«
Neil legte die Enden der Leinen nebeneinander.
»Die Knoten müssen bombenfest halten«, sagte ich und wünschte mir dabei, etwas vom Knotenbinden zu verstehen.
»Ich weiß verdammt noch mal, was ich tue!«
Ich schaute dabei zu, wie er das Ende einer Leine zweimal um die andere wickelte und diese dann durch die Öse fädelte. Das Ganze wiederholte er mit der zweiten Leine in die entgegengesetzte Richtung. Zuletzt zog er noch an den losen Enden, um diese fester miteinander zu verknoten.
»Das ist alles?«, fragte ich skeptisch. Es sah zwar sicher aus, kam mir aber irgendwie zu simpel vor.
»Doppelter Spierenstich – die beste Art und Weise, zwei Seile miteinander zu verknoten.«
Nachdem er die dritte und vierte Leine an den Ersten beiden befestigt hatte, stand er auf und hielt das Ergebnis stolz hoch.
»Kannst du ein Ende zu einer Schlinge knüpfen?«, bat ich ihn.
»Ist es denn dann noch lang genug?«
»Ich denke schon. Falls nicht, ziehst du sie halt einfach wieder auseinander.«
Neil wickelte das Ende zu einer großen Schlaufe und knotete dann einen Palsek. Anschließend kehrten wir zum Loch zurück.
Tomo kniete sich an die Kante. Mit einem Blick auf die Leinen sagte er: »Du bist echt wie James Bond, Mann.«
»Mel!«, rief ich. »Wir werfen dir jetzt das Seil zu. Bist du bereit?«
»Ja!«
Neil gab mir die Leinen. »Hier ist leider nichts in der Nähe, wo wir es festmachen können.«
Ich nickte und begann, das Seil in den Krater hinabzulassen.
»Kommst du ran, Mel?«
»Ja, ich hab's!«
»Zieh dir die Schlaufe über den Kopf und dann unter die Arme.«
»Klappt das auch wirklich?«
»Zu hundert Prozent.«
Am besten wäre es, wenn sie sich zurücklehnte, bis sie in einem Neunzig-Grad-Winkel an der Wand hing und dann daran heraufklettern konnte wie eine Bergsteigerin. Allerdings wusste ich genau, dass sie sich das niemals trauen würde. Denn falls sie abrutschte, würde sie kopfüber an dem Vorsprung vorbei bis nach ganz unten stürzen, wie tief der Krater auch immer sein mochte.
Andererseits rutschte sie, falls ein Unglück geschah – zum Beispiel wenn das Seil doch riss –, hoffentlich wieder an der Wand hinunter und landete erneut auf dem Vorsprung, wenn Tomo und Neil sie einfach gemeinsam mit mir hochzogen, Handbreit für Handbreit wie einen Fisch aus einem Loch im Eis.
So zumindest rechnete ich mir das Ganze aus.
»Bist du bereit, Mel?«, wiederholte ich.
»Ich glaube, ich schaffe das nicht!«
»Du musst! Es gibt keinen anderen Weg hinaus. Schau einfach hoch zum Licht. So weit ist es gar nicht. Ungefähr fünfzehn Fuß, nicht mehr.«
»Ich krieg das nicht hin!«
»Und ob. Wir ziehen dich doch, du musst dich also bloß festhalten.«
»Und was, wenn ich falle?«
»Das wirst du nicht. Halt dich einfach nur gut fest.«
»Und falls das Seil reißt?«
»Das wird auch nicht passieren. Es hält, versprochen. Denk einfach nicht darüber nach. Bereit?«
Sie antwortete nicht.
»Mel?«
»Ja.«
»Bist du bereit?«
»Ja.«
»Nicht loslassen, egal was geschieht.«
»Okay!«
Ich schaute nach hinten auf Neil und Tomo. Sie hatten genau wie ich ein Stück der Leine um ihren rechten Arm gewickelt, um besser ziehen zu können.
Das taten wir dann auch, während wir langsam rückwärtsgingen. Ein Schritt, dann noch einer und ein weiterer. Mel kam uns unnatürlich schwer vor. Das Polyethylen schnitt mir schon nach kurzer Zeit in die Hände, aber ich ignorierte den Schmerz einfach.
Es klappte.
Ich stellte mir vor, wie Mel den Lichtkreis über sich ins Auge fasste, während sie sich langsam pendelnd nach oben bewegte und von der Steinwand abstieß.
Falls das Seil riss oder sich die Knoten lösten …
Ich