Während wir an dem Band entlanggingen, versuchte ich, mich in den Kopf einer Person hineinzuversetzen, die alleine in diesen Wald kommt und eine solche Rettungsleine hinter sich herführte, damit sie umkehren konnte, wenn sie sich dazu besann, in die Zivilisation zurückzukehren. So jemand litt bestimmt schon seit einer ganzen Weile. Wer sich umbrachte, tat dies nur selten spontan, sondern erst nach reiflicher Überlegung. Aber was genau bewog Menschen dazu, ihr Leben selbst zu beenden? Der Tod eines Lebensgefährten oder eines Kindes? Finanzieller Ruin? Gesundheitsprobleme?
Oder einfach nur eine Menge Pech?
Ich stellte mir vor, wie solche Leute spätnachts im Dunkeln an ihrem Computer saßen, vielleicht eine Zigarette rauchten und unterschiedliche Selbstmordarten recherchierten, auch über diesen Wald oder zumindest einen Weg dorthin und über Parkgelegenheiten. Dabei bekam ich sofort eine Gänsehaut an den Armen.
Recherche fürs eigene Ableben …
Der Mensch, der sich wie Gott aufführt.
Ich bemerkte, wie ich ganz allmählich schneller geworden war. Zuerst dachte ich, dies rühre daher, dass ich zügig vorankommen wolle, um während der restlichen Zeit, die uns hier noch blieb, so weit wie möglich zu gehen, doch dann wurde mir bewusst, dass es noch einen tieferen Grund hatte, denn der Wald schien mich geradezu in seine Umarmung zu ziehen wie der empfindsame Wald, der mir im Kopf herumgegeistert war.
Mir fiel zuerst gar nicht auf, dass ich die anderen hinter mir gelassen hatte, bis Mel meinen Namen schrie.
Sie lag bereits zwanzig Fuß zurück und war bis zum Hals in den Boden eingesunken. Die Unterarme hatte sie verzweifelt um eine verdrehte Wurzel geschlungen, wahrscheinlich das Einzige, was sie davor bewahrte, noch tiefer in die Erde zu sacken.
Soweit ich es erkannte, als ich sie erreichte, war sie in einen der vulkanischen Krater getreten, weil man diese unter dem Gewirr aus Wurzeln und Abraum nicht erkennen konnte. Seinen Durchmesser schätzte ich auf knapp sechs Fuß, doch dies sicher zu sagen war schwierig, weil man kaum erkennen konnte, wo der feste Boden genau aufhörte. Spontan hätte ich es auch für eine Jagdfalle halten können, die Trapper mit Zweigen und Laub getarnt hatten, bloß dass sie dem Wald selbst erwachsen und nicht von Menschenhand erschaffen worden war.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte ich, während sich meine Gedanken überschlugen, um eine Möglichkeit zu finden, sie herauszuholen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit vor Panik weit aufgerissenen Augen. Sie drehte suchend den Kopf hin und her, weil sie sich an etwas anderem als der Wurzel festhalten wollte. Ich kniete dort nieder, wo ich den Rand des Lochs vermutete. Mel war leider zu weit weg, um mich nach ihr ausstrecken zu können. »Wie tief ist es?«
»Das weiß ich auch nicht.« Sie versuchte, nicht panisch zu klingen, doch das misslang ihr gründlich. »Ich spüre auf jeden Fall keinen Boden unter mir.«
»Schaffst du es irgendwie von selbst da raus?«
Sie bemühte sich einen Augenblick lang und wandte sich in alle Richtungen, bis die Wurzel, an der sie hing, verrutschte, sodass sie auf einmal mehrere Zoll tiefer sackte.
Sie schrie erschrocken auf.
Ich hechtete vorwärts und packte ihre Handgelenke. Das war natürlich äußerst dämlich; eine instinktive Reaktion. Jetzt lag ich nämlich auf dem Bauch und hing mit dem Oberkörper über der Kante, weshalb ich keinen Halt fand, um Mel herauszuholen, und mich alleine auch unmöglich selber wieder zurückziehen konnte.
Unter uns sah ich zwischen dem toten Laub und den Zweigen nichts als Dunkelheit.
Wie tief ist es wohl?
»Lass mich nicht los«, wisperte sie voller Furcht.
»Das werde ich nicht.«
Nun hörte ich Neil und Tomo näherkommen.
»Passt auf!«, warnte ich sie.
»Meine Fresse«, sagte ersterer.
»Oh Shit!«, fluchte der Japaner. »Der Wald will sie fressen, fuck.«
»Haltet meine Beine fest«, bat ich, »damit ich nicht auch noch reinfalle.«
Einen Moment später spürte ich Hände an meinen Fußgelenken.
»Nicht loslassen!«
»Wie kommst du darauf, Mann?«, erwiderte Tomo.
»Mel«, sagte ich, während ich versuchte, Ruhe zu vermitteln, weil ich mich fühlte wie ein Esel auf sehr dünnem Eis. »Leg die Arme nun vorsichtig um meinen Hals und ich schlinge meine um dich. Dann werden uns Tomo und Neil rausziehen.«
»Ich kann aber nicht loslassen.«
»Doch, du kannst. Das Loch ist vermutlich sowieso nicht sonderlich tief. Denk einfach nicht daran.«
»Du hast doch selbst gesehen, wie tief diese Krater sein können.«
»Dieser hier ist aber eher klein. Komm schon, du schaffst das.«
Sie sah so ängstlich aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Nachdem sie sich so weit umgedreht hatte, bis sie sich die Wurzel in eine Armgrube klemmen konnte, streckte sie die andere Hand nach mir aus und bekam nun endlich meinen Jackenkragen zu fassen. Ich schob meinen Arm daraufhin unter ihren.
»Gut«, sagte ich, um ihr Zuversicht zu spenden. »Jetzt das Gleiche noch einmal mit dem anderen.«
Sie befolgte meine Anweisung und hielt mich kurz darauf mit beiden Händen fest. Sie verschränkte sie nun in meinem Genick, während ich ihren Torso umklammerte.
Jetzt bildeten wir eine lange Kette wie beim Affenfass-Spiel: Mel, ich, Tomo und zuletzt Neil.
»Tomo, hältst du mich auch gut fest?«, rief ich nach hinten.
»Ja, Mann.«
»Neil, hast du ihn sicher im Griff?«
»Alles klar, Kumpel. Gib Bescheid, wann's losgehen soll.«
»Jetzt!«
Sie fingen an zu ziehen.
»Warte!«, schrie Mel. »Meine Hände rutschen wieder ab.
»Ich hab dich«, versicherte ich ihr.
Infolge der Rückwärtsbewegung rutschte mir das T-Shirt am Bauch hoch. Spitze Zweige zerkratzten meine Haut. Mel kam jedoch endlich langsam aus dem Loch hervor. Die Wurzel, an der sie gehangen hatte, befand sich schon unter ihrem Bauchnabel. Endlich spürte ich wieder festen Boden unter mir. Ich richtete mich vorsichtig auf Knien auf und zog sie dann zu mir. Tomo ließ meine Knöchel los und hockte sich hinter mich …
Plötzlich gaben die Wurzeln, auf denen Mel liegen geblieben war, laut knackend unter ihr nach. Sie kreischte und stürzte in die Dunkelheit hinab, wobei sie versuchte, sich an der steinigen Wand des Kraters festzuklammern, ehe sie komplett verschwand.
Ich ließ mich nach vorne fallen, um sie zu schnappen, aber es war vergeblich. Wahrscheinlich wäre ich ebenfalls hineingestürzt, hätten Neil und Tomo es nicht verhindert.
»Mel!«, schrie ich entsetzt.
Ich lauschte gequält, ob sie irgendwo aufschlug. Aber nichts geschah.
»Mel!«
Tomo und Neil riefen ebenfalls nach ihr.
»Ethan!« Mels Stimme drang nun leise nach oben. Aber sie klang schrill und unsicher.
Ich konnte beim besten Willen nicht einschätzen, wie tief sie gefallen war.
Hatte sie sich beim Aufprall ein Fußgelenk gebrochen? Ein Bein?
Wenigstens lebt sie noch!
»Mel, was ist passiert?«
»Hilf mir – oh Gott!«
»Was ist?«, beharrte ich. »Was ist passiert?«
»Ich liege auf einem Felsvorsprung oder so etwas. Da ist …