SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt). Jeremy Bates. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jeremy Bates
Издательство: Bookwire
Серия: Die beängstigendsten Orte der Welt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351820
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sagt er jetzt?«, fragte ich.

      »Er will uns anzeigen.«

      »Ist es denn verboten, diesen Weg zu verlassen?«

      »Ich glaube nicht. Er ist scheiß verrückt, wen juckt's?«

      »Du kannst mich mal, kemosabe!«, schnauzte John Scott zurück und zeigte dem Alten einen Mittelfinger.

      »Hey«, rief ich. »Bleib locker.«

      »Was denn, wieso?«

      »Du bist unverschämt.«

      »Hör dir das Arschloch doch mal an.«

      »Er hat ja nicht ganz unrecht«, erwiderte ich. »Vielleicht zelten wir doch besser nicht hier draußen.«

      »Komm mir jetzt bloß nicht auf die Tour. Er wettert doch nur, weil wir keine Japaner sind, sondern gaijin. Wären wir keine Ausländer, würde er garantiert nicht so auf uns losgehen. Die müssen ihren Rassismus endlich mal überwinden.«

      »Du entsprichst halt einfach ihrem Klischeebild vom lauten, unausstehlichen Amerikaner.«

      »Ach ja? Und er entspricht meinem von einem fremdenfeindlichen Wichser.«

      »Du bist hier nun mal nicht zu Hause«, erinnerte ich ihn.

      »Hat er deshalb das Recht, so auszuflippen?«

      »Du weißt aber schon, dass kemosabe nicht Japanisch ist, oder?«

      »Was denn sonst?«

      Ich ging kopfschüttelnd weiter und dachte mir meinen Teil.

      Kurz nach meinem Umzug nach Japan hatte ich mit ein paar Freunden ein Restaurant besucht. Das Tagesangebot belief sich darauf, dass man sich für dreihundert Yen so viel Shōchū, Bier, Cocktails und Highballs hinter die Binde kippen durfte, wie man nur konnte. Alles stand an einer Selbstbedienungstheke bereit, doch es gab einen Haken: Man hatte zum Trinken nur eine halbe Stunde Zeit, bevor man wieder blechen musste. Als unverblümte Zecher waren wir deshalb innerhalb einer Stunde sternhagelvoll und guter Dinge. Während mein schottischer Mitbewohner und ich mit der Bahn nach Hause fuhren, unterhielt ich mich am Handy laut mit meiner Ex Shelly, die zufällig gerade aus den Staaten angerufen hatte. Er saß mir gegenüber und starrte still auf ein Glas in seiner Hand, das er voller Rum aus dem Lokal mitgenommen hatte, um weiter trinken zu können. Ein alter Mann stakste plötzlich zu uns hinüber, was mir aber nicht auffiel, bis er auf einmal anfing, mich in seiner Muttersprache zu beschimpfen. Ich wusste damals noch nicht, dass Telefongespräche im öffentlichen Verkehr hier als extrem großer Fauxpas galten, und maulte deshalb munter zurück. Der Schotte starrte mich mit glasigem Blick an, sagte irgendetwas und kotzte sich anschließend selber voll. Zu seiner Verteidigung sei gesagt, dass er eine gehörige Menge Erbrochenes mit dem gestohlenen Glas auffing. Der japanische Mann stieg daraufhin rot vor Wut an der nächsten Haltestelle aus.

      Damals hielt ich den Typen für ein Arschloch, weil er sich gefälligst um seinen eigenen Krempel hätte kümmern sollen. Später erkannte ich allerdings, dass ich in Wirklichkeit der Arsch gewesen war, weil ich mich nicht an die japanische Etikette gehalten hatte. Klar, er sah in mir wahrscheinlich einen typischen gaijin, aber genauso führte ich mich ja auch auf. War er deshalb gleich ein Rassist? Ich denke nicht. In Japan gilt je nach gesellschaftlicher Situation ein extrem komplexes System aus heiklen Regeln. Die Menschen dort kennen sie, Ausländer hingegen oft nicht. Darum nimmt man Ausländer eben anders wahr und behandelt sie auch dementsprechend. So läuft es einfach in Japan. Entweder gewöhnt man sich daran oder man zieht wieder weg.

      Wir gingen noch ungefähr zehn Minuten weiter, bis wir fanden, wonach wir gesucht hatten. Zwischen zwei Bäumen am linken Rand des Hauptwanderwegs war ein Seil gespannt. Daran hing mittig ein Schild mit der Aufschrift »BETRETEN VERBOTEN« auf Englisch. Dahinter verschwand ein schmaler, mäandernder Pfad im Dickicht, der offenbar fast unbenutzt war. Die dürren Jungbäume links und rechts neigten sich nach innen, sodass sich ihre Zweige in der Höhe verschränkt hatten wie Knochenfinger, was den Eindruck eines Tunnels erweckte, den man nicht unbedingt durchschreiten wollte.

      Die Nervosität, die ich schon zuvor empfunden hatte, stellte sich jetzt wieder ein, dieses Mal allerdings wesentlich penetranter, und ich fragte mich zusehends, ob unsere Idee, hier draußen zu übernachten, wirklich klug war.

      Mel dachte augenscheinlich das Gleiche, denn sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als würde sie plötzlich frieren und meinte: »Sag jetzt bitte nicht, wir gehen da durch.«

      »Aber sicher doch«, bestätigte Ben.

      »Warum campen wir denn nicht gleich hier?«

      »Weil hier gar kein Abenteuer in Aussicht steht.«

      »Ich hatte bis jetzt schon genug Abenteuer.«

      »Hier würde man uns doch sofort entdecken.«

      »Wer denn? Wir sind bisher nur an drei Wanderern vorbeigekommen.«

      »Wir nehmen diesen Weg«, meinte Ben nachdrücklich, »suchen uns ein gediegenes Plätzchen und schlagen dann unser Lager auf.«

      »Der Alte hat damit gedroht, uns anzuzeigen«, gab Neil zu bedenken. »Was, wenn er genau das tut und die örtliche Polizei gleich hier aufkreuzt? Ich bin wirklich nicht scharf darauf, eingebuchtet zu werden.«

      »Eingebuchtet? Wofür denn?«, fragte John Scott. »Weil wir den Hauptweg verlassen haben?«

      »Das wäre immerhin unbefugter Zutritt. Die Drei haben garantiert unsere Campingausrüstung gesehen. Da können sie doch zwei und zwei zusammenzählen.«

      »Das hier ist öffentliches Gelände!«

      »Auf diesem Schild steht ganz ausdrücklich, dass das Betreten verboten ist.«

      »Aber nichts von strafrechtlicher Verfolgung.«

      »Was heißt denn das hier?«, warf Mel ein. Sie zeigte auf ein kleineres Schild neben dem Englischen, das mit Kanji beschriftet war.

      »Nicht in den Wald gehen«, übersetzte Tomo. »Sie verirren sich.«

      »Das ist alles?«, fragte ich.

      »Seht ihr?«, sagte John Scott.

      Ich schaute mich nach weiteren Warnhinweisen um … und entdeckte eine Überwachungskamera zehn Fuß weit entfernt oben an einer schwarzen Metallstange, die teilweise hinter Bäumen verborgen war.

      »Was zur Hölle ist denn das?« Ich zeigte darauf.

      Alle schauten hinüber. Der eine oder andere raunte verwundert.

      »Wer die wohl aufgehängt hat?«, dachte Neil laut. »Die Polizei?«

      »Wahrscheinlich«, entgegnete Ben. »Das ist aber keine große Sache.«

      »Was meinst du damit?«, fragte Mel. »Sie könnten uns schließlich in diesem Augenblick beobachten.«

      »Selbst wenn«, sagte Tomo, »wird sie sich nicht um uns kümmern.«

      Das konnte ich nicht nachvollziehen. »Wieso denn nicht?«

      »Weil sie sich Sorgen um die Leute macht, die Selbstmord begehen wollen. Ihr hingegen als Ausländer? Da können sie sich denken, dass ihr euch nicht umbringen wollt. Ihr seid ihnen egal.«

      Ben kam wieder auf den Punkt, indem er sagte: »Sind also alle einverstanden? Gehen wir dort entlang?«

      Ich sah noch einmal Mel an. Sie zuckte resignierend mit den Achseln, was auch meine Gleichgültigkeit widerspiegelte. Ben grinste daraufhin breit und stieg über die Absperrung, um danach Nina darüber zu helfen. Dabei rutschte ihre kurze Hose an den Beinen hoch. John Scott folgte ihr und schwang seine Beine nacheinander hinüber, ohne die Knie zu beugen, gefolgt von Tomo und schließlich Neil, der prompt mit einem Fuß hängen blieb und fast umfiel. Ich hob das Seil einfach hoch, woraufhin sich Mel bückte und darunter hindurchging.

      So verließen wir den Hauptpfad und schlugen den Weg ins Ungewisse ein.