SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt). Jeremy Bates. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jeremy Bates
Издательство: Bookwire
Серия: Die beängstigendsten Orte der Welt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351820
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ich es irgendwann leid war, mich auf diese Weise zu unterhalten – und mir selbst dabei gehörig Angst einzujagen –, verdrängte ich bewusst alle Gedanken daran und konzentrierte mich lieber wieder auf den Weg. Überraschenderweise kam mir nun wieder Gary in den Sinn. Na ja, eigentlich passierte das ständig und immer genau dann, wenn ich nicht damit rechnete. Dies hatte ich während der Monate nach seinem Tod natürlich unaufhörlich getan, doch die Zeit nimmt dem Kummer gemeinhin seinen Schmerz, wobei auch Erinnerungen weiter in die Ferne rücken. So etwas wie den Tod eines Bruders vergisst man zwar niemals und nimmt es auch nicht irgendwann hin, aber man lernt ab einem gewissen Punkt, wohl oder übel damit zu leben.

      Gary war frühmorgens am 12. Dezember 1999 auf dem Weg zum Training im Giant Center in Hershey erschossen worden. Er spielte für die Hershey Bears, eine Mannschaft der American Hockey League. Obwohl ihn die NHL '96 nicht genommen hatte, war er im Folgejahr von den Washington Capitals als ablösefreier Spieler angeheuert worden und drei Saisons lang zwischen diesem Team sowie welchen der unterklassigen Ligen hin und her gependelt. Die meisten Sportexperten hatten gemeint, er könne sich als feste Größe unter den Profis bewähren, falls er sich von seiner Knieverletzung erholen würde, wegen der eine Wiederherstellungsoperation vonnöten gewesen war. Sie hätte seine Karriere eigentlich beenden müssen, doch Gary hatte eine Entschlusskraft an den Tag gelegt wie kein anderer Mensch, den ich kannte. Um wieder zu seiner alten Form auflaufen zu können, hatte er doppelt so viel wie seine Teamkameraden trainieren müssen, und in unserem letzten Gespräch miteinander, ungefähr einen Monat vor seinem Tod, hatte er mir gesagt, dass er wieder auf der Höhe sei.

      Der Typ, der ihn ermordet hatte, war ein achtzehnjähriger Heroinabhängiger gewesen, der während der vorangegangenen Jahre mit Unterbrechungen immer wieder im Jugendknast gesessen hatte. Er hatte meinen Bruder noch nicht einmal gekannt. Sie waren einander zuvor niemals begegnet. Gary war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

      Für gewöhnlich hatte er jeden Tag an der North Hockersville Road gejoggt, die durch einen abgelegenen Wald führte. An jenem Morgen aber war er querfeldein gelaufen, um jemandem zu helfen, der zusammengesackt an einem Baumstamm lehnte. Der junge Mann – Jerome Tyler – zog daraufhin eine Pistole und verlangte Garys Brieftasche. Als dieser sich weigerte, sie herauszugeben, bekam er kurzerhand eine .22er-Kugel verpasst. Tyler nahm die Brieftasche an sich und floh. Gary schaffte es noch zurück auf die Straße, bevor er endgültig zusammenbrach. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo man sofort herausfand, dass die kleinkalibrige Munition verheerenden Schaden angerichtet hatte, nämlich seine Leber und die Aorta durchlöchert hatte.

      Ich hatte damals auf meinen Universitätsabschluss an der Wisconsin-Madison hingearbeitet und gerade einen leichten Rausch ausgeschlafen, als meine Mutter anrief und hysterisch erzählte, mein Bruder sei angeschossen worden. Ich war sofort nach Pennsylvania gereist und traf noch am selben Abend im Krankenhaus ein. Meine Eltern waren gemeinsam mit Garys Ehefrau Cheryl und ihrem Töchterchen Lisa dort. Vater nahm mich beiseite und erklärte mir leise, wie es um meinen Bruder bestellt sei. Seine Augen waren rot – ein Beleg dafür, dass er geweint hatte, was mir bei ihm bis dahin vollkommen fremd gewesen war. Nie habe ich etwas Schwierigeres getan, als Garys Zimmer zu betreten. Er hatte auf dem Rücken in einem automatisch verstellbaren Bett gelegen und war an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen gewesen, blass mit gräulicher Haut und einer Sauerstoffmaske auf dem Mund. Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch die Blutzufuhr zu seinen Füßen und seinem Gehirn funktionierte bereits nicht mehr. Solange man es mir erlaubte, war ich an seinem Bett stehen geblieben, ohne etwas zu sagen oder zu tun. Nur seine Hand hatte ich gehalten.

      Schließlich war ich irgendwann auf einem Sofa im Besucherbereich eingeschlafen. Am nächsten Morgen hatten mich meine Eltern und Cheryl geweckt. Ich hatte es sofort an ihren Gesichtern ablesen können: schlechte Nachrichten. Ärzte hatten ihnen erklärt, Gary werde sein Koma wahrscheinlich nicht mehr überwinden, und falls doch, sei er praktisch hirntot. Man hatte deshalb entschieden, die Maschine, an der er hing, abzuschalten.

      Auf meinem Rückflug nach Wisconsin war ich komplett von der Rolle gewesen. Ich erinnere mich nicht mehr daran und weiß auch nichts mehr von den darauffolgenden Tagen. Nur die Beerdigung ist mir noch vage im Gedächtnis geblieben. Bei den Anwesenden hatte es sich größtenteils um Familienmitglieder gehandelt, ansonsten noch um Mannschaftskameraden von Gary. Während der Feier hatte sein Sarg offen gestanden. Er hatte auf bemerkenswerte Weise lebendig ausgesehen, weshalb man sich fast hätte vorstellen können, er würde jeden Moment die Augen aufschlagen und sagen, das alles sei nur ein großer Scherz gewesen. Ich hatte mit meinen Fingerrücken über seine Wange gestreichelt. Seine Haut hatte sich seltsam gummiartig angefühlt und war kalt wie ein Grabstein gewesen. Die Einsicht, dass dies das allerletzte Mal war, dass ich ihn sehen würde, traf mich fast, wie ein körperlicher Schlag. Ich bekam plötzlich keine Luft mehr und musste zum Durchatmen hinausgehen. Dort hatten drei von Garys Mitspielern gestanden und geraucht. Einer von ihnen hatte gelächelt, während er einen Scherz gemacht hatte, als sei dies ein Tag wie jeder andere in der Umkleidekabine. Ich war hinübergegangen und hatte ihn gefragt, worum es gerade gehe. Er war zum Glück so einsichtig gewesen, sich zu schämen, wie es sich auch gehörte. Für mich hatte dies jedoch keine Bewandtnis gehabt, denn ich schlug ihm trotzdem mit der Faust in sein Gesicht, rang ihn nieder und ließ mich auf ihn fallen, um weiter auf ihn eindreschen zu können, bis mich irgendwann jemand herunterzog.

      Jerome Tyler, den die Polizei am Tag nach Garys Tod festgenommen hatte, war wegen vorsätzlichen Mordes an den Pranger gestellt worden. Das Gerichtsverfahren hatte nur eine Woche gedauert. Die Geschworenen waren nach einer Stunde mit einem einhelligen Urteil in den Saal zurückgekehrt: lebenslänglich mit Aussicht auf Bewährung nach zehn Jahren.

      Damals hielt ich dies für extrem ungerecht, denn Jerome war ein kaltblütiger Mörder und verdiente keine mildernden Umstände, sondern nur den Tod – Auge um Auge.

       Ich hatte Fantasien darüber nachgehangen, wie ich ihn eigenhändig umbringen würde; das half mir abends beim Einschlafen. In jedem dieser Gedankenspiele tötete ich ihn auf eine andere Art, aber niemals sofort. Es dauerte stets lange, war also ein ausgedehnter Vorgang. Währenddessen redete ich mit ihm und verspottete ihn, hielt mein Leben im Angesicht seines Todes hoch und zeichnete ein deutliches Bild der Nichtigkeit, die ihm blühen würde.

      Heute lasse ich mich nicht mehr auf solche Fantasien ein, aber es ist trotzdem nicht so, dass ich Jerome verziehen hätte. Es gibt einfach keinen Grund mehr, noch einen Groll gegen ihn zu hegen. Denn nach sieben Monaten im Gefängnis fand man ihn mit dem Kopf in einer Kloschüssel und mit sieben Messerstichen im Rücken. Als offizielle Todesursache wurde Ertrinken angegeben.

      So hatte ich es mir zwar nie vorstellt, aber es sollte mir recht sein.

      Zwanzig Minuten später stießen wir auf ein weißes Band. Es war locker um den Stamm eines kleinen Baumes gewickelt und führte im rechten Winkel von uns fort in den Wald hinein. Wir betrachteten es, wobei wohl jeder von uns seine ganz eigenen Mutmaßungen anstellte.

      »Ist das auch eine Orientierungshilfe der Polizei?«, fragte Mel neugierig.

      »Entweder das, oder ein Selbstmörder hat es gespannt«, behauptete Tomo.

      »Warum sollte das jemand tun, der sich umbringen will?«

      »Damit man seine Leiche findet?«, vermutete Neil.

      Tomo schüttelte den Kopf. »Nein, damit er wieder rauskommt.«

      »Das finde ich unlogisch. »Wenn er Suizid begehen will, Tomo, muss er doch wohl den Rückweg nicht kennen.«

      »Manche sind noch nicht entschlossen, sondern denken noch darüber nach.«

      »Also ziehen sie so etwas hinter sich her, falls sie es sich anders überlegen mit dem Selbstmord?«

      »Ja, Mann«, bestätigte er und setzte sich in Bewegung, um dem Band zu folgen.

      »Warte!«, rief Mel. »Wo willst du denn hin?«

      Er drehte sich um. »Wir dem Band folgen, richtig?«

      »Weißt du vielleicht, was uns am Ende erwarten könnte?«, fragte Neil.

      »Sei nicht wieder Feigling.«