SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt). Jeremy Bates. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jeremy Bates
Издательство: Bookwire
Серия: Die beängstigendsten Orte der Welt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351820
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Schwatzens und der Heiterkeit war offenbar vorbei. Was uns spontan eingefallen war, um uns die Wartezeit zu verkürzen, hatte letzten Endes eine bedenkliche Wendung genommen. Obwohl wir nicht unbedingt Landfriedensbruch begingen, waren wir definitiv in einer Gegend unterwegs, wo wir nichts verloren hatten. Aokigahara wurde traditionell von Menschen aufgesucht, die mit ihrem Leben abschließen wollten. Der Wald blieb deshalb den Toten vorbehalten, nicht den Lebenden. Ich schätze, dies wurde uns allen langsam bewusst, als wir durch den Baumtunnel gingen, der klaustrophobisch und bedrohlich zugleich war.

      Nichtsdestotrotz deutete niemand von uns an, umkehren zu wollen. Vermutlich trieb uns morbide Neugier weiter. Wissen zu wollen, was sich hinter der nächsten Ecke befindet, egal, womit man rechnen muss, liegt irgendwie im Wesen des Menschen begründet.

      Mein Herz schlug viel schneller als normal, und meine Sinneswahrnehmung war so scharf, als hätte ich einen großen Energy Drink zu mir genommen. Ich behielt den Urwald zu beiden Seiten im Auge, obwohl ich gar nicht so genau wusste, was ich überhaupt zu sehen erwartete. Einen pendelnden Strick mit Schlinge vielleicht? Eine Leiche? Ein Gespenst mit fahlem Gesicht, das zwischen den Bäumen schwebte und langsam auf uns zukam? Abgesehen davon, dass es bei jedem Schritt immerzu knackte und ich aufgeregt und laut atmete, war gar nichts zu hören. Ich staunte abermals über die befremdliche Stille in diesem Wald und fragte deshalb: »Hey Tomo, warum gibt es hier keine Tiere?«

      Er schaute über die Schulter zu mir zurück. »Was meinst du damit?«

      »Na ja, ich habe noch keine hier gesehen, weder Vögel noch sonst welche.«

      »Das ist ein verdammter Geisterwald, Mann. Vögel haben große Angst, fliegen deshalb in anderen Wald.«

      »Und wieso ist es außerdem windstill?«, fügte Ben hinzu. »Das finde ich ebenfalls komisch.«

      »Ich gehe mal davon aus, dass es an den Bäumen liegt«, argwöhnte Neil. »Sie sind so dicht zusammengewachsen, dass kein Luftzug hindurch kommen kann.«

      »Wenn dieser Weg verboten ist, Tomo«, sagte nun Mel. »Warum gibt es ihn dann überhaupt? Wer hat ihn angelegt?«

      »Die Polizei. Er wird benutzt, um Tote zu suchen.«

      »Wie viele findet man denn so im Jahr?«

      »Hundert bis zweihundert.«

      Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Was?«

      Wir anderen hielten auch inne.

      Tomo ergänzte gelassen: »Mal mehr, mal weniger.«

      »Ich hätte nie gedacht, dass es so viele sind.« Mel war blass geworden. »Ich dachte … ich weiß nicht … es seien nur eine Handvoll jedes Jahr.«

      Ergo lag ich mit meinen geschätzten ein bis zwei Dutzend pro Jahr deutlich näher an der wirklichen Zahl.

      Unter den Erste-Welt-Ländern hat Japan die höchste Suizidrate von allen«, gab Neil sachlich kund.

      »Werden wir also tatsächlich auf eine Leiche stoßen?«, fragte Mel.

      »Der Wald ist groß«, antwortete ich unverbindlich.

      »Und falls ja«, erwiderte Ben, »wird vermutlich nur noch ein Skelett davon übrig sein.«

      »Na immerhin«, entgegnete sie.

      Ich sah sie an. »Willst du jetzt zurückgehen?«

      »Du?« Sie erwiderte meinen Blick.

      »Sei kein Angsthase, Kumpel«, meinte John. »Es war so abgemacht, und jetzt sind wir hier.«

      »Willst du zurückgehen?«, wiederholte ich.

      »Hasenfuuuß«, rief er grinsend.

      »Halt dich raus«, schoss ich zurück.

      »Ich wollte doch bloß …«

      »Das geht dich überhaupt nichts an.«

      »Schon gut, Jungs«, lenkte Mel ein. »Ich komm schon klar.«

      John Scott schnaubte, als habe er sich bei einem Kräftemessen durchgesetzt, und übernahm jetzt gemeinsam mit Ben die Führung. Während wir unseren Weg fortsetzten, schaute ich noch mehrere Male nach vorne und spielte verschiedene Gesprächsverläufe im Kopf durch. Diese liefen aber entweder darauf hinaus, dass ich ihm sagte, dass ihn eigentlich niemand dabeihaben wollte, oder sie spitzten sich zu einem Faustkampf zu, den naheliegenderweise natürlich ich gewann.

      Mein Ärger verflog nach und nach wieder, sodass ich genauer auf unsere Umgebung achtete. Der Wald wurde immer unheimlicher, je tiefer wir uns hineinwagten. Die Jungbäume am Wegrand schienen sich immer weiter auf uns zuzudrängen, und ihre Stämme ragten jetzt dicht an dicht vor uns auf, wie Gitterstäbe einer Gefängniszelle, während man glaubte, gleich würden einige herabhängende Äste wie knöcherne Hände nach uns greifen.

      Auf einmal stieß Ben einen Schrei aus. Im nächsten Moment beugten sich alle an einer Stelle direkt neben dem Pfad nach vorne. Als ich mich über Mel lehnte, sah ich dort aufgehäuft mehrere Geräte und andere Dinge liegen. Eine silberfarbene Taschenlampe, verpackte Batterien, eine Bügelsäge mit orangefarbenem Griff, schwarze Gummihandschuhe, eine Schere und Klebeband. Außerdem eine transparente Plastiktüte voller Dosen, die irgendwelche Chemikalien enthielten.

      »Das Zeug muss der Polizei oder den Freiwilligen gehören, die immer nach den Toten suchen«, meinte Ben. »Seht ihr die Schere und die Säge?«

      »Aber wozu sollen die Dosen gut sein?«

      Die Antwort darauf kannte niemand.

      John Scott hob die Taschenlampe und die Batterien auf.

      »John!«, echauffierte sich Mel. »Was fällt dir ein?«

      »Die können wir doch gut gebrauchen.«

      »Du darfst sie nicht einfach mitnehmen.«

      »Wieso denn nicht? Sie wurden doch eindeutig absichtlich hiergelassen.«

      »Aber derjenige, dem sie gehören, kommt vielleicht wieder zurück, um sie zu holen.«

      »Ich lege sie ja morgen wieder hier ab, bevor wir nach Hause fahren.«

      »Ich finde trotzdem, dass du sie liegen lassen solltest.«

      »Hast du denn eine eigene Taschenlampe?«

      »Ja.«

      »Sonst noch jemand?«

      »Ich habe auch eine«, sagte Neil.

      »Mehr nicht? Zwei von sieben Personen?« John Scott schaute uns nacheinander an. »Hat außer ihr noch jemand etwas dagegen, eine dritte Lampe mitzunehmen? Später wird es hier nämlich garantiert stockfinster.«

      Angesichts dieses Hinweises widersprach niemand mehr.

      Irgendwie war ein Steinchen in meinen linken Schuh gerutscht und nervte mich die ganze Zeit schon ohne Ende. Ich trug nämlich anders als der Rest der Gruppe keine Wanderstiefel. Ich brauchte leider Größe 13, die sich hier in Japan nahezu unmöglich auftreiben ließ, nicht einmal in einer Großstadt wie Tokio. Deshalb hatte ich mir keine vernünftigen Schuhe zulegen können, die diesem Ausflug angemessen gewesen wären, und trug stattdessen einfach ausgetretene Jogging-Reeboks, die ich damals aus den Staaten mitgebracht hatte.

      John Scott, der jetzt gerade Nina zehn Fuß vor mir beschwatzte, steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch zur Seite.

      Dabei fielen mir zum ersten Mal seine Schuhe auf: 18-Loch-Doc-Martens aus schwarzem Leder mit gelben Nähten. Was ich davon halten sollte, wusste ich genauso wenig wie von seiner extravaganten Lederjacke.

      Hatte er damit den Fuji besteigen wollen, oder hatte er noch andere Schuhe in seinem großen Armeerucksack verstaut?

      »Worüber habt ihr euch vorhin unterhalten?«, wollte ich von Mel wissen.

      »Wer?«

      Ich antwortete nicht, denn sie wusste ganz genau, wen ich meinte.

      »Er