46
6. Die Widerrufsbelehrung in Anlage 3 soll Anwendung finden, wenn dem Verbraucher eine eingeräumte Überziehungsmöglichkeit auf dem laufenden Konto nach § 504 Abs. 2 BGB gewährt wird und der Abschluss des Vertrags im Fernabsatz oder außerhalb der Geschäftsräume stattfindet. Hier ist vorauszuschicken, dass der Gesetzgeber den Verbraucher bei Finanzdienstleistungen, die im Fernabsatz oder außerhalb der Geschäftsräume geschlossen werden, in gleicher Weise für schutzbedürftig hält. Abweichend davon hatte der Europäische Richtliniengeber den Abschluss von Finanzdienstleistungsverträgen mit Verbrauchern, soweit diese außerhalb der Geschäftsräume geschlossen werden, nicht in den Anwendungsbereich der Verbraucherrechterichtlinie aufgenommen, sondern diese ausdrücklich ausgeschlossen. Den deutschen Gesetzgeber hat dies nicht davon abgehalten, dem Verbraucher grundsätzlich in beiden Vertriebssituationen denselben Schutz zukommen zu lassen. Wie sich den Gesetzesmaterialien entnehmen lässt, hat er von diesem Prinzip nicht abrücken wollen.58 Dabei sind Umsetzungsdefizite entstanden, die nur damit zu erklären sind, dass die Richtlinien und deren deutsche Umsetzungsgesetze, weil überschießend umgesetzt, nicht übereinstimmen. Der europäische Richtliniengeber hat hinsichtlich des Widerrufsrechts und der vorvertraglichen Informationspflichten bei Finanzdienstleistungen den potenziellen Konflikt zwischen den vertriebsbezogenen Informationspflichten und einem Vertriebswege bezogenen Widerrufsrecht und den produktspezifischen Informationspflichten und einem produktspezifischen Widerrufsrecht erkannt und durch entsprechende Regelungen in den Richtlinien grundsätzlich den produktspezifischen Richtlinien gegenüber den vertriebsbezogenen Richtlinien den Vorrang eingeräumt. Bei der geduldeten Überziehung (§ 504 Abs. 2 BGB) steht dem Verbraucher sowohl nach der Verbraucherkreditrichtlinie als auch nach dem deutschen Umsetzungsgesetz kein Widerrufsrecht zu (§ 504 Abs. 2 Satz 1 BGB). Wird der Vertrag im Fernabsatz geschlossen, ist der Verbraucher daher über sein Widerrufsrecht nach den fernabsatzrechtlichen Vorschriften zu belehren (§ 312g BGB). Dem hat der europäische Gesetzgeber Rechnung getragen, in dem in den vorvertraglichen Informationen zur geduldeten Überziehungsmöglichkeit nach § 504 Abs. 2 BGB, den „Europäischen Verbraucherkreditinformationen bei 1. Überziehungskrediten 2. Umschuldungen“ (Anlage 5 zu Art. 247 § 2 EGBGB) ein zusätzlicher Abschnitt 6 vorgesehen ist, wenn es sich bei dem Vertrag gleichzeitig um ein Fernabsatzgeschäft handelt. Dort sind die zusätzlichen Informationen nach dem Fernabsatz aufgeführt sowie die inhaltliche Belehrung über das Widerrufsrecht vorgesehen. In der Abfassung der Muster-Widerrufsbelehrung in Anlage 3 hat der Gesetzgeber sich bedauerlicherweise nicht an den Informationskatalog der Anlage 5 für die geduldete Überziehung und die vorvertraglichen Informationspflichten nach Art. 247 § 10 Abs. 1 EGBGB gehalten, sondern sich ausschließlich an dem Inhalt des Art. 246b EGBGB orientiert, obwohl bei einem Fernabsatzgeschäft mit der Übermittlung des entsprechend ausgefüllten Musters in der Anlage 5 zu Art. 247 § 2 EGBGB die vorvertraglichen Informationspflichten nach § 312d Absatz 2 BGB als erfüllt gelten. Ein Darlehensgeber wird daher bei Verwendung der Anlage 5, die auf die Verbraucherkreditrichtlinie (2008/48/EG) zurückzuführen ist, inhaltliche Ergänzungen vornehmen müssen, die sich aus dem europäischen Muster nicht so ergeben. Keine Antwort bietet jedoch das Gesetz für den Abschluss eines Vertrags über eine geduldete Überziehung im Sinne von § 504 Abs. 2 BGB, wenn dieser außerhalb der Geschäftsräume geschlossen wird. Die Anlage 5, die identisch ist mit dem Muster, wie es der Verbraucherkreditrichtlinie (2008/48/EG) als Anhang III beigefügt worden ist, bietet nur Ergänzungen für Fernabsatzverträge; dies ist konsequent, weil die Verbraucherrechterichtlinie nach dem Willen des Richtliniengebers keine Anwendung auf Finanzdienstleistungen findet, daher bieten die europäischen Muster keine Regelungen für Außergeschäftsräumeverträge. Der Richtliniengeber hielt die produktspezifischen Informationen und den damit verbundenen Verbraucherschutz für das Präsenzgeschäft für ausreichend, und zwar unabhängig davon, ob der Vertrag in den oder außerhalb der Geschäftsräume des Unternehmers geschlossen wird. Das deutsche Gesetz weist an dieser Stelle Lücken aus, die durch den Darlehensgeber zu schließen sind. Grundsätzlich gilt, dass nach Art. 247 § 2 Abs. 4 Satz 2 EGBGB der Darlehensgeber seine vorvertraglichen Pflichten nach § 491a Abs. 1 BGB und § 312d Abs. 2 BGB erfüllt, wenn er die Anlagen 4 oder 5 verwendet und entsprechend ausfüllt. Dies gilt sowohl für den Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrags in den Geschäftsräumen, im Fernabsatz oder außerhalb der Geschäftsräume. Anlage 5 ergänzt die Musterinformation nur für den Fall des Fernabsatzes, nicht jedoch für den Fall des Vertragsabschlusses außerhalb der Geschäftsräume. Wie eine entsprechende richtige Umsetzung erfolgen kann, darüber schweigen die Gesetzesmaterialien. Eine denkbare Lösung wäre, den Verbraucher auf zwei getrennten Dokumenten die vorvertraglichen Informationen in der Anlage 5 Abschnitte 1 bis 5 zur Verfügung zu stellen und den Abschnitt 6 auf einem gesonderten Dokument, allerdings übertitelt mit den zusätzlichen Informationen bei außerhalb der Geschäftsräume geschlossenen Verträgen von Finanzdienstleistungen. Bei der Widerrufsbelehrung ist dann die Anlage 3 zu verwenden.
47
7. Weitere offene Fragen ergeben sich bei den Immobiliarförderdarlehensverträgen, für die der Gesetzgeber in Anlage 6 Abschnitt 11 zu Art. 247 § 1 Absatz 2 EGBGB eine gesonderte Widerrufsbelehrung nach § 312g BGB vorsieht, soweit der Vertrag im Rahmen eines Fernabsatzgeschäfts angeboten wird.
48
Mit dem Gesetz führt der Gesetzgeber einen neuen Begriff ein, den Immobiliarförderdarlehensvertrag, ohne ihn näher zu definieren. Darunter zu verstehen ist ein „Immobiliar-Verbraucherdarlehensvertrag“ im Sinne von § 491 Abs. 3 Satz 3 BGB, auf den nur § 491a Abs. 4 anwendbar ist. Der Gesetzgeber will sie, obwohl sie in § 491 Abs. 3 BGB als Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge bezeichnet werden, nicht wie Verbraucherdarlehen behandeln. Das ist sicher zutreffend, da nach § 491a Abs. 4 BGB der Darlehensgeber nur verpflichtet ist, von dem ESIS-Merkblatt die Abschnitte 3, 4 und 13 dem Verbraucher auf einem dauerhaften Datenträger zur Verfügung zu stellen. Mit Erbringung dieser reduzierten Informationspflicht sollen nach Art. 247 § 1 Abs. 2 Satz 6 EGBGB gleichzeitig die Informationspflichten nach § 312d BGB in Verbindung mit Art. 246b EGBGB als erfüllt gelten, § 491a Abs. 4 Satz 2 EGBGB. Abweichend von diesem Wortlaut vertritt der Gesetzgeber die Auffassung, dass für die Erfüllung der vorvertraglichen Informationspflichten bei dem Abschluss von Immobiliarförderdarlehensverträgen im Fernabsatz oder außerhalb der Geschäftsräume nur ein vollständiges ESIS-Merkblatt, wie es in Anlage 6 dargestellt wird, gleichzeitig die Anforderungen des Art. 246b EGBGB abdeckt. Bedauerlicherweise hat der Gesetzgeber diese Auffassung nicht mit einer Änderung des § 491a Abs. 4 BGB klargestellt, sondern dies nur durch eine Ergänzung in Art. 247 § 1 Abs. 2 EGBG um die Sätze 7 und 8 geregelt. Obwohl der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung betont, dass der Verbraucher in beiden Vertriebssituationen denselben Schutz genießen soll, bleibt der Wortlaut des Gesetzestextes hinter dieser Intention zurück. So wird in dem Teil B „Hinweise zum Ausfüllen des ESIS-Merkblatts (Anlage 6 zu Art. 247 § 1 Abs. 2 EGBGB) zu Abschnitt 11 Absatz 3 („Sonstige Rechte des Kreditnehmers“) nur die Formulierungsvorgabe für das Widerrufsrecht vorgegeben, wenn es sich um ein „Fernabsatzgeschäft“ handelt. Für den Fall des Außergeschäftsräumegeschäfts gilt die Formulierung dem Wortlaut nach nicht. Da es sich vermutlich um ein Redaktionsversehen handelt, empfiehlt es sich für den Rechtsanwender, in beiden Vertriebssituationen das vollständige ESIS-Merkblatt mit der Widerrufsbelehrung, wie sie sich aus der Formulierungshilfe in Anlage 6 Teil B des ESIS-Merkblatts ergibt, zur Erfüllung der vorvertraglichen Informationen über das Bestehen eines Widerrufsrechts nach Art § 312g BGB zu verwenden.
53 Vgl. EuGH v. 26.3.2020 – C 66/19 –, WM 2020, S. 688, 690, Rn. 46, 47. 54 BT-Drs. 19/29391, 48. 55 BGH-Urteil vom 22.9.2020 (XI ZR 219/19), WM 2020,