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Abgesehen von der Rücktritts-Problematik werfen Affektdelikte dieser Kategorie immer auch die Frage nach der Schuldform (Verletzungsvorsatz/Tötungsvorsatz[89]) und der Schuldfähigkeit[90] des Täters auf. Die Abläufe ähneln sich auf frappierende Weise. Häufig spielt sich das Tatgeschehen in den eigenen vier Wänden ab. Die Ermittlungen kommen zumeist dadurch in Gang, dass Nachbarn die Polizei herbeirufen, nachdem sie aus der betreffenden Wohnung verdächtige Geräusche oder gar Hilferufe wahrgenommen haben. Der Täter verweilt womöglich noch am Tatort und lässt sich widerstandslos festnehmen.
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Affekttäter kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Arbeiter und Angestellte, aber auch Ingenieure, Ärzte, Studienräte und sogar Pastoren haben sich schon auf der Anklagebank wiedergefunden, nachdem sie ihre Geliebte bzw. Ehefrau getötet oder dies zumindest versucht haben. Die „verhängnisvolle Affäre“, die einen Seitensprung zum Albtraum werden lässt, bis das Fass überläuft und ein seriöser Anwalt zum „Mörder“ wird, ist kein lebensfernes Konstrukt. Vor Jahren musste sich das Aachener SchwurG mit der Totschlagsanklage gegen einen Chefarzt befassen, weil er eine Krankenschwester seiner Krebsstation erstochen hatte. Zu ihr hatte er lange Zeit eine außereheliche Beziehung unterhalten, bis ihr Drängen und Fordern, sich von Ehefrau und Kindern zu trennen, immer extremere Züge annahm. Erst ein demonstrativ zur Schau getragener Parasuizid, dann anonyme Briefe an die Ehefrau. Schließlich die Drohung, ihn durch Indiskretionen beruflich zu ruinieren. Seinen herbeigeführten Rauswurf als Arzt bezahlte die Unglückliche mit ihrem Leben. Außer sich, drang der Onkologe nachts durch ein winziges Toilettenfenster in ihre Wohnung ein und erstach die junge Frau mit einem Küchenmesser. Anschließend lenkte er nach stundenlanger Irrfahrt seinen Pkw gegen einen Brückenpfeiler. Wie durch ein Wunder überlebte er diesen „Unfall“ schwerverletzt. Natürlich können auch Frauen im Affekt töten, wie jedermann aus der Vita der Schauspielerin Ingrid van Bergen weiß, die 1977 „rasend vor Eifersucht“ ihren zwölf Jahre jüngeren Lebensgefährten erschoss.
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„Gängig“ ist auch das Erschießen[91] oder Erstechen[92] der geliebten (oder auch verhassten) Person auf offener Szene. Es sind insbesondere eifersüchtige Männer, die, nachdem sie verlassen worden sind, ihrer Ex-Partnerin unter hochgradiger affektiver Anspannung auflauern oder sie am Arbeitsplatz überraschen, „zur Rede stellen“ und vor den Augen der Arbeitskollegen töten. Nach anschließender Flucht, auf der der Täter womöglich zunächst ziellos herumirrt, stellt er sich schließlich selbst der Polizei. Für die Verteidigung gilt es dann, den auf Eifersucht oder planvollen Waffeneinsatz gestützten Mordvorwurf abzuwehren und die schuldvermindernden Elemente des Affekts sichtbar zu machen. Erstaunlich oft wird die Polizei durch den Täter selbst zum Tatort gerufen. Oder er bittet Dritte, die Polizei oder Feuerwehr zu alarmieren, um dem Opfer ärztliche Hilfe zu leisten. Hier liegt es besonders nahe, den Tötungsvorsatz in Zweifel zu ziehen[93].
2. Zweikämpfe und Schlägereien mit tödlichem Ausgang
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Ebenso häufig anzutreffen sind Tötungsdelikte, die aus einer Gruppe heraus, nicht selten im Zuge einer Massenprügelei, jedenfalls aber im Rahmen wechselseitiger Tätlichkeiten geschehen. Es sind durchweg junge Täter, die sich in gruppendynamischen Kraftfeldern dazu hinreißen lassen, mit Messern oder anderen gefährlichen Werkzeugen auf ihre gleichaltrigen Kontrahenten loszugehen. Wie bei allen Gewaltdelikten ist der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen beträchtlich[94].
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Typisch ist der vom BGH in 2001 verhandelte Totschlagsversuch eines Heranwachsenden. Während einer „Zeltdisco“ war es zwischen rivalisierenden Gruppen aus der Nachbarschaft zu einer Massenschlägerei gekommen. Der Angeklagte, ein Albaner, hatte einen seiner „Gegner“ verfolgt und mit dem Messer niedergestochen[95]. Tötungsdelikte, die aus Schlägereien heraus spontan geschehen, können u.U. die Beteiligten beider Seiten auf die Anklagebank bringen, sofern sie noch ausfindig zu machen sind. Es muss dann in einer extrem zeitaufwändigen Hauptverhandlung geklärt werden, in welcher Rolle die jeweiligen Angeklagten „mitgemischt“ haben und ob überhaupt einer von ihnen strafrechtliche Verantwortung für die tödliche Stichverletzung trägt.
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Beteuert jeder seine Unschuld, ist die Beweislage mitunter äußerst verwirrend. Die Geschädigten, selbst in Gefahr allein schon wegen ihrer Beteiligung an der Schlägerei (§ 231 StGB[96]) bestraft zu werden, halten mit der Wahrheit hinterm Berg. Womöglich kommt es unter den Angeklagten zu wechselseitigen Schuldzuweisungen. Vom Exzess[97] des unerkannt entwischten Haupttäters ist die Rede. Die StA hingegen spricht von Zurechenbarkeit und Mittäterschaft[98]. Unbeteiligte Beobachter, die vielleicht sogar selbst unter Alkoholeinfluss standen[99], helfen vielfach nicht weiter. Da in aller Regel ein Turbulenzgeschehen zugrunde liegt, das eine präzise Wahrnehmung erschwert, sind die Angaben von Augenzeugen zur Tatentstehung, zum Ablauf und zu den Beteiligten wenig verlässlich. Häufig kommt es schon im Ermittlungsverfahren zu Lichtbildvorlagen oder Gegenüberstellungen[100]; die Ergebnisse sind oft mit großer Skepsis zu betrachten. Das gilt verstärkt für Täteridentifizierungen in der Hauptverhandlung, wenn keine Vergleichspersonen bereitstehen und die Angeklagten auf der Anklagebank Platz nehmen mussten[101]. Zeugen sind womöglich dem einen oder anderen Lager zuzuordnen, oder sie ergreifen aus Mitleid unbewusst Partei für den Unterlegenen, das Opfer. Immer fragt sich, wie oder wer die Auseinandersetzung begonnen hat. Womöglich berufen sich gerade die Angeklagten darauf, angegriffen worden zu sein und sich nur gewehrt zu haben (Notwehr, Nothilfe)[102]. Mit Hilfe der Kriminaltechnik werden über Blutanhaftungen oder Fasern an sichergestellten Kleidungsstücken unmittelbare Kontakte zwischen Opfer und Tatbeteiligten nachvollzogen. Allerdings kann Blut auch sekundär übertragen worden sein. Spurenkunde ist gefragt.
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Wird die Tatbeteiligung/Täterschaft eingeräumt oder anderweitig geklärt, stellt sich die Frage nach dem Tötungsvorsatz[103]. Es wird sodann, unterstützt durch Psychiater und/oder Pharmakologen,