So spektakulär diese Einzelfälle sind, so selten kommen sie allerdings in der Strafverteidigerpraxis vor. Die Feststellung der Mutterschaft ist heute dank DNA-Technik [164] unproblematisch. Aber ist in Anbetracht des Zeitablaufs noch sicher feststellbar, ob das Kind jemals gelebt hat?[165] Wenn ja, wann, wie und durch wessen Hand ist es zu Tode gekommen? Dann die Frage nach dem Tatmotiv. War der Erstickungstod des Säuglings ein Unglücksfall oder ein eiskalter Mord, weil das Kind die Lebensplanung der Kindesmutter durchkreuzte?[166] Lag bei der Kindesmutter eine akute geistig-seelische Störung vor? Um festzustellen, ob und ggf. welche Auswirkungen das Gefühl permanenter Überforderung oder psychische Krankheiten gehabt haben, nimmt die Schuldfähigkeitsbegutachtung der Täterin [167]in aller Regel breiten Raum ein.
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War es in den vorerwähnten Fällen nur einem Zufall zu verdanken, dass die Kindestötungen überhaupt ans Licht kamen, begegnen uns in der Praxis auch Neonatizide, die in aller Öffentlichkeit vor den Augen Dritter stattfinden und in aller Regel zeitnah zur Festnahme der psychisch gestörten Kindesmutter führen oder mit dem Freitod der suizidalen Mutter enden. Im März 2007 warf eine junge Mutter (26) in Hamburg ihr Neugeborenes aus dem Fenster eines Hochhauses. Das LG Hamburg erkannte auf Totschlag im minder schweren Fall und verhängte eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten[168]. Im August 2009 warf eine junge Frau in Pforzheim ihr 2 Monate altes Baby und ihren 4-jährigen Sohn vom Balkon eines Hochhauses, bevor sie sich dann selbst in den Tod stürzte. Wie später bekannt wurde, war sie seit Langem schwer psychisch krank[169]. Eine 29 Jahre alte Studentin musste sich Anfang 2009 vor dem LG in Moabit verantworten, weil sie knapp ein Jahr zuvor ihre 2 Monate alte Tochter vom Balkon ihrer im dritten Stock gelegenen Wohnung geworfen haben soll[170]. Das Baby hatte den Sturz aus sieben Metern Höhe mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma sowie inneren Verletzungen überlebt. Die Frau wurde für schuldunfähig erklärt. Gleichzeitig wurde die Unterbringung der Studentin in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik angeordnet. Nach Überzeugung des Gerichts hatte die Frau zur Tatzeit unter einer schweren Psychose gelitten[171]. Mit zweieinhalb Jahren Haft und der Unterbringung in der Psychiatrie endete im Juni 2010 das Verfahren gegen eine 35-jährige Frau aus Volmarstein, die ihren Sohn von einem Balkon geworfen hatte und hinterher gesprungen war. Der Junge blieb fast völlig unverletzt. Das Hagener Landgericht wertete ihre Tat als versuchten Totschlag – begangen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit[172].
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Auch in Göttingen hatte vor knapp 10 Jahren eine junge Mutter ihr erst 10 Tage altes Baby aus einer der oberen Etagen der Wöchnerinnen-Station des Uni-Klinikums geworfen[173]. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, nachdem der psychiatrische Sachverständige aufgrund einer diagnostizierten schweren psychotischen Wochenbettdepression, die behandelbar war und Wiederholungen nicht befürchten ließ, § 20 StGB nicht sicher ausschließen konnte[174]. US-Forscher haben durch Befragung junger Eltern herausgefunden, dass 14 % der Mütter nach der Geburt eines Kindes an mittelschweren oder schweren Depressionen litten[175].
e) Unvollendete oder misslungene Mitnahmesuizide
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Tagtäglich berichten die Medien von tödlichen „Familiendramen“, bei denen der Vater, bevor er sich das Leben nahm, die gesamte Familie ausgelöscht hat. Oder der Sohn hat seine Eltern getötet, die Mutter ihre Kinder. Von einem tödlichen „Beziehungsdrama“ oder „Scheidungsdrama“ ist die Rede, wenn der verlassene Partner seine Expartnerin mit sich in den Tod reißt. So wie im vorerwähnten Fall der verzweifelten Frau aus Volmarstein, die vergeblich versucht hatte, gemeinsam mit ihrem Sohn aus dem Leben zu scheiden[176], stehen immer wieder Väter oder Mütter vor Gericht, die ihr eigenes Kind getötet haben oder töten wollten und anschließend mit dem Versuch gescheitert sind oder nicht mehr die Kraft hatten, sich selbst das Leben zu nehmen[177]. So erging es dem damals 50-jährigen Angeklagten, der im März 2001 seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen, neun und fünf Jahre alten Söhne getötet hatte. Anschließend fuhr er zur Nürnberger Burg und stürzte sich in die Tiefe, um auch seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er überlebte schwer verletzt. Zur Tat hatte er sich entschlossen, nachdem seine Ehefrau wenige Tage zuvor angekündigt hatte, ihn und die Kinder zu verlassen, weil sie eine neue Liebesbeziehung eingegangen war. Ein Leben ohne intakte Familie erschien dem Angeklagten nicht lebenswert. Die Kinder tötete er, weil diese nicht ohne Eltern aufwachsen sollten. Bei der Tatausführung machte sich der Angeklagte zunutze, dass seine Opfer schliefen. Das LG Nürnberg-Fürth hat den Angeklagten wegen Mordes in drei Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Es sah bezüglich aller Tatopfer das Mordmerkmal der Heimtücke als gegeben an. Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen[178].
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Das Urteil wirft Fragen auf: Bei entsprechenden Konstellationen ist immer an eine De- oder Exkulpation des Täters aus dem Blickwinkel des „erweiterten Suizids“ zu denken. Mit dem Begriff des erweiterten Suizids wird in der Psychiatrie die Mitnahme naher Familienangehöriger (oder auch Dritter) in das eigene suizidale Geschehen gekennzeichnet. Dem Täter muss es primär um die Beendigung des eigenen Lebens gehen, während die Mitnahmeabsicht dem untergeordnet („sekundär)“ und aus der eigenen Suizidalität ableitbar sein muss[179]. Namhafte Stimmen verlangen darüber hinaus altruistische Beweggründe[180], also die Vorstellung, zum Besten des Opfers zu handeln. Im Mittelpunkt eines sich gegen den überlebenden Täter geführten Strafprozesses steht regelmäßig die Psychosituation des Täters: Leidet er an einer psychotischen Erkrankung? Liegt vielleicht „nur“ eine schwere neurotische Fehlentwicklung oder eine schwere Persönlichkeitsstörung vor? Sodann ist nach Anzeichen eines präsuizidalen Syndroms[181] Ausschau zu halten, das drei Merkmale umfasst, die einer ernstgemeinten Suizidhandlung vorausgehen: Der Täter erlebt vor dem Hintergrund des eigenen Denkens oder Verhaltens (Depression, Kontaktstörung) oder infolge realer äußerer Faktoren (Isolation, Vereinsamung, Arbeitslosigkeit, Verluste, Krankheit) eine scheinbar zunehmend ausweglose Lage, bis letztlich nur der Suizid als Möglichkeit bleibt (Einengung). Es findet sich eine verstärkte und gleichzeitig gehemmte Aggression, die sich früher oder später gegen den Betroffenen selbst richtet (Aggressionsumkehr). Das Gefühl der Überforderung bewirkt eine Flucht in die Irrealität. Der Betroffene errichtet eine Scheinwelt, in der Gedanken zunehmend um Tod und Suizid kreisen (Suizidphantasien).
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Waren der Tat – möglichst objektivierbar – schwere Belastungen oder Konfliktsituationen vorausgegangen, die zu einer Einengung geführt haben könnten? Hier kann dem Täter in Bezug auf das Mordmerkmal der Heimtücke das zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Ausnutzungsbewusstsein gefehlt haben[182]. Und auch die drohende Feststellung der besonderen Schuldschwere würde im Falle nur eingeschränkter Schuldfähigkeit womöglich unterbleiben[183].
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Spektakulär war der vor dem LG Göttingen verhandelte Fall des damals 22 Jahre alten Marc D., der im Juli 1990 seine sieben Monate alte Tochter mit Benzin übergoss und verbrannte, nachdem ihm die junge Kindesmutter endgültig die Tür gewiesen hatte[184]. Er litt zur Tatzeit infolge der andauernden Querelen unter einer ausgeprägten Depression, hatte vorgehabt, erst seine kleine Tochter und dann sich selbst umzubringen. Die Psycho-Gutachter hatten ihn zunächst für uneingeschränkt schuldfähig erklärt. Sie zweifelten seine Darstellung an, er habe schon vor der Tat ein Seil beschafft, das er an den Mast einer Überlandleitung geknüpft habe, um sich daran aufzuhängen. Als die Verteidigung, den Ortsbeschreibungen des Mandanten folgend, das noch an dem Mast hängende Seilende aufspürte und in der Hauptverhandlung – thematisch gut vorbereitet – die Gutachter „in die Zange nahm“, mussten diese ihre Einschätzung korrigieren und die Voraussetzungen des § 21 StGB bejahen. Die authentische Mitschrift des Befragungsdialogs ist auszugsweise in Teil 20 A abgedruckt[185]. Das sehr maßvolle Urteil: 11 Jahre