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Unter den bundesdeutschen Städten führte im Jahre 2010 Frankfurt/M. mit etwa 6 Mord- und Totschlagsfällen auf 100.000 Einwohner. In absoluten Zahlen übertraf Berlin mit 122 versuchen oder vollendeten Mord- und Totschlagsfällen alle anderen deutschen Städte[17]. Die Häufigkeitszahlen der bei uns polizeilich registrierten vorsätzlichen Tötungsdelikte sind seit Anfang der 70er-Jahre – entgegen dem allgemeinen Trend – rückläufig. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei den versuchten und vollendeten Tötungsdelikten im unteren Bereich. In Deutschland ist das Risiko, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, rund 7-mal größer als die Gefahr, einem vorsätzlichen Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen[18]. Auffällig ist schon immer der hohe Versuchsanteil: Bei Mord über die Hälfte und bei Totschlag und Tötung auf Verlangen knapp vier Fünftel der Fälle[19]. Die Fortschritte in der Intensivmedizin dürften sich auch in Deutschland in einem Rückgang der vollendeten Morde um -6 (-2 %) und der vollendeten Totschlagsdelikte um -21 (-6,4 %) widerspiegeln, allerdings bei gleichzeitigem Absinken der Anzahl von Versuchstaten (von -5 bei Mord: -1,2%; von -26 bei Totschlag: -2,2 %)[20].
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Nichtdeutsche stellten bei Mord und Totschlag drei von zehn Tatverdächtigen[21]. Zu beachten ist dabei, dass sich die nichtdeutsche Wohnbevölkerung immer noch zu einem größeren Teil aus jüngeren Männern unter vierzig zusammensetzt als die deutsche Wohnbevölkerung. Ferner dürfte auch die besondere, konfliktträchtige Lebenslage in der Fremde bedeutsam sein. Die Restgruppe, die sich vor allem aus nicht anerkannten Asylbewerbern mit Duldung, aus Flüchtlingen, Besuchern und erwerbslosen Personen zusammensetzt, weist bei Mord und Totschlag mit mehr als der Hälfte den höchsten Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen auf. Die Gruppe der Asylbewerber stellt bei Mord und Totschlag einen Anteil von weniger als einem Zehntel (8,4 %) an den nichtdeutschen Tatverdächtigen. Im Vergleich zu ihren Tatverdächtigenanteilen bei den Straftaten insgesamt sind vor allem Tatverdächtige mit türkischer Staatsangehörigkeit bei den vorsätzlichen Tötungen überdurchschnittlich vertreten[22].
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Im Jahre 2010 sind insgesamt 682 Personen wegen versuchten oder vollendeten Mordes oder Totschlags verurteilt worden, davon 34 Jugendliche, 75 Heranwachsende und 577 Erwachsene[23]. Wegen vollendeten Mordes wurde in 128 Fällen lebenslange Haft verhängt[24]. Zum 31.03.2011 saßen bundesweit 2.343 Strafgefangene wegen vollendeten, weitere 539 wegen versuchten Mordes und weitere 1.434 wegen Totschlags ein[25], 2.048 Strafgefangene verbüßten eine lebenslange Freiheitsstrafe[26].
Teil 1 Einführung › A › II. Dunkelziffer
II. Dunkelziffer
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Weil nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten und Tatverdächtigen gezählt werden, ist die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) begrenzt. Ein Großteil der verübten Straftaten gelangt der Polizei nicht zur Kenntnis. Mehr als 10.000 unnatürliche Todesfälle jährlich, darunter mindestens 1.200 Tötungsdelikte, bleiben in Deutschland unerkannt. Zu diesem Ergebnis kommt Brinkmann in einer Studie des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster[27]. Die Hauptursache wird in unterbliebenen oder mangelhaft durchgeführten Obduktionen gesehen. Schon lange schätzen Experten, dass auf jedes erfasste Tötungsdelikt mindestens 2 Kapitalverbrechen kommen, die nicht als Tötungsdelikte erkannt werden[28]. Die Dunkelziffer-Relationen schwanken bei anderen Autoren zwischen 1:3 bis 1:7, bei Kindestötungen sogar bis 1:10[29].
1. Leichenschau
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Ein großes Sorgenkind ist das Leichenschauwesen, das durch landesrechtliche Gesetze und Verordnungen geregelt ist[30]. Nicht zuletzt um fremdverschuldete Todesfälle zu erkennen, ist jede menschliche Leiche, bevor sie bestattet wird, von einem Arzt zu untersuchen. Das gilt auch für die Leiche eines Neugeborenen, wenn nach der Trennung vom Mutterleib mindestens eines der Lebenszeichen vorgelegen hat: Herzschlag, Pulsieren der Nabelschnur, natürliche Lungenatmung. Auch Totgeburten mit einem Gewicht von mindestens 500 g sind zu untersuchen. Erreicht ein Totgeborenes dieses Gewicht nicht, ist es als Fehlgeburt von der Leichenschau ausgenommen[31]. Das Ergebnis der Leichenschau ist in der Todesbescheinigung (Leichenschauschein oder auch Totenschein) festzuhalten, die vom Standesbeamten zur Beurkundung des Sterbefalles und zur Anfertigung der Sterbeurkunde benötigt wird. Der Leichenbeschauer hat nicht nur anhand sicherer Todesanzeichen den endgültigen Todeseintritt festzustellen, den Todeszeitpunkt zu bestimmen und – soweit möglich – Mitteilungen über die Todesursache sowie etwa zum Tode geführte Erkrankungen zu machen, sondern auch nach Anhaltspunkten für einen nicht natürlichen Todesfall zu suchen. Kaum vorstellbar aber wahr, immer wieder schockieren Meldungen, dass Mediziner den Totenschein ausgestellt haben, obwohl die vermeintlich Gestorbenen noch gelebt haben[32].
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Oft genug bleiben aber auch Anzeichen unentdeckt, die auf ein Verbrechen hindeuten. Nur der Wachsamkeit einer Freundin des Opfers ist zu verdanken, dass der Mord einer privaten Altenpflegerin an einer hochbetagten Dame aufgeklärt werden konnte, die im November 2001 durch Verschließen der Atemöffnungen mit einer „weichen Bedeckung“ zu Tode gebracht worden war. Die behandelnde Ärztin hatte zahlreiche Punktblutungen im Gesicht des Opfers übersehen und einen natürlichen Tod bescheinigt[33]. Es finden sich authentische Fälle, bei denen man einen Brustkorbsteckschuss, einen Herzstich oder Strangmarken um den Hals übersehen und einen natürlichen Tod bescheinigt hat. Mal hatte der Leichenbeschauer pflichtwidrig darauf verzichtet, die Leiche zu entkleiden, mal war die Beschau bei völlig unzureichenden Lichtverhältnissen durchgeführt worden. Bei künstlicher Beleuchtung sind verschiedene Rottöne kaum zu unterscheiden. Insbesondere Hinweise auf Vergiftungen bleiben dann leicht unerkannt. Fachleute gehen deshalb davon aus, dass die im Rahmen der Leichenbeschau getroffenen Diagnosen in mehr als der Hälfte aller Fälle unzutreffend sind[34]. 1996 fand Brinkmann unter 350 Todesfällen, die in der Leichenbeschau als „natürlich“ eingestuft worden waren, 92 „nicht natürliche“ Todesursachen, darunter 9 Suizide und 10 Tötungsdelikte. Bundesweit werden weniger als 5 % der Verstorbenen seziert, in Kliniken sind es etwa 10 %[35].
2. Verschleierte Kindestötungen
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Gegen Kinder gerichtete Straftaten mit tödlichem Ausgang, allen voran Misshandlungen und Vernachlässigungen, werden längst nicht immer (auf Anhieb) als vorsätzliche Kindestötungen erkannt[36], wie im Fall eines verzweifelten Vaters, der sein aufs Schwerste missgebildetes und geistig behindertes Kind unter einer Wolldecke erstickt hatte, um ihm Qualen künftiger Operationen zu ersparen, und sich erst ein Jahr nach der Tat gegenüber den Behörden, die von einem natürlichen Tod ausgegangen waren, freiwillig gestellt und zu seiner Tat bekannt hatte[37]. Oder die Behauptung der Aufsichtsperson ist medizinisch nicht sicher zu widerlegen, es handele sich um einen Unglücksfall; sie habe das später seinen inneren Verletzungen erlegene Kind auf dessen Wunsch hin mehrere Male spielerisch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, bis ihr das Kind entglitten und unglücklich gefallen sei[38]. Allein hinter den im Jahre 2010 offiziell erfassten 164 Fällen, in denen die Diagnose des Plötzlichen Kindstods gestellt wurde[39], dürften sich in nennenswerter Zahl auch unentdeckt gebliebene Gewaltdelikte verbergen. Hinzu kommen Neugeborene, die nach verheimlichter Schwangerschaft durch ihre Mütter getötet und irgendwie unbemerkt versteckt oder beseitigt werden[40].