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Es beruhigt, dass man angesichts vorherrschender Beweisarmut rechtskräftige Schuldsprüche mit der Lupe suchen muss. Liegt kein Geständnis vor und gibt es weder unmittelbare Tatzeugen noch eindeutige Sachbeweise, wirft jede Verurteilung in einem Mordfall ohne Leiche zwangsläufig die Frage nach den Grenzen richterlicher Erkenntnisfähigkeit auf. So etwa 1997 im Fall des einstigen Saarbrücker „Rotlichtkönigs“ Hugo Lacour, der 1985 seinen Geschäftspartner Weirich aus dem Weg geräumt haben soll, um an dessen Vermögen zu gelangen. Das SchwurG erkannte wegen Mordes auf lebenslange Haftstrafe, die Schuldschwerefeststellung[62] inbegriffen. Obwohl Weirichs Leiche nie gefunden wurde, war die Beweiswürdigung nach Meinung des BGH nicht zu beanstanden. Die Aussagen und Indizien trügen die Feststellung, dass der Angeklagte das Opfer „aus Habgier entweder eigenhändig umgebracht oder dessen Tötung durch andere veranlasst“ habe[63].
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Für viel Konfliktstoff hat die äußerst fragwürdige Verurteilung des Hartmut Crantz durch das Lübecker Landgericht gesorgt. Dessen Ehefrau war spurlos aus ihrem Haus im schleswig-holsteinischen Ratzeburg verschwunden. Die Familie der Vermissten war überzeugt, Crantz habe sie ermordet, um einer Scheidung zuvorzukommen. Obwohl die Leiche der Frau und Tatspuren nicht gefunden worden sind, das Tatgericht „keine näheren Feststellungen zum eigentlichen Tötungsgeschehen treffen konnte“, Zeugen die Vermisste sogar noch Tage nach ihrem Verschwinden im Nachbarort gesehen haben wollten und Crantz immer wieder seine Unschuld beteuert hatte, wurde er im Dezember 2001 des Mordes für schuldig befunden. Die Richter, die ein „Lebenslänglich“ verhängten, hatten – in Tatsachenalternativität[64] – sage und schreibe sechs (!) verschiedene Möglichkeiten des Tathergangs – teilweise wiederum mit Untervarianten – „festgestellt“. Nachdem diese (erste) Verurteilung vom BGH[65] kassiert werden musste, hat das LG Lübeck im April 2003 in der Neuauflage abermals auf Mord erkannt. Zwei Tage später erhängte sich Crantz in seiner Haftzelle[66].
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Eindeutiger war offenbar die Indizienlage gegen drei Angeklagte, die 2009 durch das LG Darmstadt wegen Anstiftung bzw. Mordes aus Habgier an einer Person verurteilt wurden, deren Leiche man bis heute nicht gefunden hat. Einer der Angeklagten hatte bei dem Getöteten Schulden in Höhe von rund 50.000 €. Um sich seines Gläubigers zu entledigen, gab er dessen Ermordung bei den zwei Mitangeklagten in Auftrag. Die Angeklagten, die zur Sache schwiegen, wurden unter anderem anhand der polizeilichen Observation bei der nach der Tötung erfolgten Geldübergabe, der Auswertung von Geodaten der Mobiltelefone der Beteiligten sowie des in der Wohnung des Getöteten gesicherten Spurenmaterials überführt[67].
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Vorläufiger Schlusspunkt und Warnruf zugleich ist der Fall des seit 2001 spurlos verschwundenen Bauern Rudolf Rupp. Die Verurteilung seiner Ehefrau sowie der beiden Töchter und des Ex-Verlobten einer Tochter wegen Totschlags und Beihilfe dazu erwies sich als tragischer Justizirrtum. Rupp war entgegen der getroffenen „Feststellungen“ keineswegs von seinen Angehörigen erschlagen, zerstückelt und an die Hofhunde verfüttert worden. Noch im Pkw sitzend und äußerlich unversehrt, wurde Rupps Leiche Jahre danach aus der Donau geborgen[68].
Teil 1 Einführung › A › III. Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten
III. Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten
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Die allermeisten der als unnatürlich erkannten Todesfälle, die in ein Ermittlungsverfahren münden, gelten als aufgeklärt[69]. Die Quote in Bezug auf Mord und Totschlag liegt seit Jahrzehnten auf hohem Niveau bei etwa 90 bis 95 Prozent[70]. Für einige Großstädte wie Augsburg, Bielefeld, Braunschweig, Chemnitz, Dresden, Gelsenkirchen, Halle, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Mannheim, Münster, Rostock oder Wiesbaden wurden 2010 Aufklärungsquoten von 100 % vermeldet[71]. Doch diese Erfolgszahlen täuschen über den allgemeinen „Täterschwund“ hinweg, der von der Registrierung des Tatverdächtigen in der PKS bis zum Verfahrensabschluss, wie er sich in der Rechtspflegestatistik niederschlägt, zu beobachten ist. Während die PKS die Verdachtslage aus polizeilicher Sicht widerspiegelt und nicht nachträglich korrigiert wird, falls sich der Verdacht nicht erhärtet, misst die Strafverfolgungsstatistik (StrVerfStat) das Ergebnis der (in Form von Strafprozessen durchgeführten) gerichtlichen Untersuchungen. Bisweilen entpuppt sich ein – zumindest aus Polizeisicht – scheinbar eindeutig geklärter Mord im Nachhinein als harmloser Unglücks- oder natürlicher Todesfall. Nach Abgabe der Akten an den Staatsanwalt kommt es überdies nicht nur zu Verfahrenseinstellungen, weil Zweifel an der Täterschaft des Beschuldigten bestehen, sondern in ganz hoher Zahl werden die Vorwürfe auch „herunterdefiniert“, vom Mord zum Totschlag, von der vorsätzlichen zur fahrlässigen Tötung, zur Körperverletzung mit Todesfolge oder zum Rauschdelikt[72].
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Aus älteren Untersuchungen der frühen 70er wissen wir, dass mindestens jeder 2. Fall, in dem der Verdacht eines vorsätzlichen Tötungsdelikts bestanden hat, nicht zu einer entsprechenden Verurteilung geführt hat. Noch dramatischer waren die Zahlen, wenn es um nur versuchte Tötungsdelikte ging. In allenfalls ein Viertel der Vorwürfe hatte sich der Verdacht auch im Schwurgerichtsverfahren uneingeschränkt bestätigt[73]. Im Jahre 2010 endeten immerhin 44 Verfahren wegen versuchten oder vollendeten Mordes oder Totschlags mit Freispruch[74]. Kommt es wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zum Schuldspruch, werden im Durchschnitt zwischen 7 und 8 Haftjahre verhängt[75].
Teil 1 Einführung › A › IV. Charakteristische Tötungsdelikte
1. Beziehungstaten
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Bei der Mehrzahl der Tötungsdelikte handelt es sich um Beziehungstaten[76], die polizeisprachlich auch als Nahraumdelikte bezeichnet werden. 2010 fanden im Bereich von Mord und Totschlag zwei von drei vollendeten Taten unter Verwandten oder näheren Bekannten statt[77]. In nur 10,6 % der Fälle mit getöteten Frauen gab es nachweislich zuvor keine persönlichen Berührungspunkte[78]. Das Risiko der Frau, den Gewalttätigkeiten ihres männlichen Partners zum Opfer zu fallen, ist sechsmal größer als umgekehrt. Im Vergleich dazu laufen selbst zuvor misshandelte Frauen bei Tötung ihres Partners bzw. bei entsprechenden Tötungsversuchen weitaus häufiger Gefahr, wegen Mordes verurteilt zu werden. Das jedenfalls berichtet Oberlies[79], die geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verurteilungsstatistik männlicher und weiblicher Mörder und Totschläger anhand von 177 Schwurgerichtsurteilen untersucht hat.
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