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Sexualmorde machen allerdings, anders als die medial bewegte Bevölkerung glaubt, nur einen geringen Prozentsatz der Tötungsdelinquenz aus. Umfragen zufolge herrscht die Meinung vor, Sexualmorde an Kindern hätten in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Jedoch sind nach den verfügbaren Daten die Zahlen seit Langem rückläufig[144]. Das Risiko, Opfer eines Sexualmordes zu werden, hat seit 1973 um etwa zwei Drittel abgenommen. In der Zeitspanne von 1973 bis 1987 wurden insgesamt 83 Kinder und Jugendliche als Opfer von Tötungsdelikten gezählt (~ 6 pro Jahr); von 1995 bis 1999 waren es dagegen nur noch 18 (~ 4 pro Jahr)[145]. In den letzten 2 Jahrzehnten wurden in den alten Ländern der Bundesrepublik durchschnittlich 2 bis 3 Fälle pro Jahr des vollendeten Mordes aus sexuellen Motiven an Kindern gezählt[146]. Im Berichtsjahr 2010 hat es nur einen Sexualmord[147] an Kindern (bis 13 Jahre) gegeben; betroffen war ein Mädchen[148].
b) Totgeprügelte Kinder
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Die Fälle von Kindesmisshandlungen sind nicht nur in ihren Extremformen[149] durchweg bestürzend. Die größte Gefahr droht Kleinkindern vonseiten ihrer überforderten Mütter und Väter. Gewalt gegen Kinder ist ein Dauerthema. Obwohl mittlerweile die Bevölkerung einen geschärften Blick für Anzeichen von Kindesmisshandlungen hat und wohl auch die Anzeigebereitschaft gestiegen ist, sind die Zahlen immer noch erschreckend hoch und weiter im Ansteigen begriffen. Die Täter kommen fast ausnahmslos aus dem nahen Umfeld; es sind zumeist die Eltern, die Gewalt gegenüber ihren Kindern üben. Zumeist offenbart sich das ganze Ausmaß des Martyriums erst, nachdem das Kind zu Tode geprügelt und obduziert worden ist. Dann zeigen sich neben frischen Verletzungen auch die für Misshandlungen typischen Vernarbungen, Rippen- und Schlüsselbeinfrakturen oder intercraniellen Blutungen. Doch wann, wodurch und durch wessen Hand sind die Verletzungen entstanden?[150] Vor Gericht stellt sich nicht selten die Frage nach der Mitschuld der Mutter, wenn sie tatenlos zusieht, wie ihr Kind durch den Ehemann oder Lebensgefährten traktiert wird (Täterschaft durch Unterlassen)[151], sofern die Mutter sich nicht sogar selbst aktiv an den Quälereien beteiligt hat. Auch die Mitverantwortung der Jugendämter rückt in den Fokus, wenn man konkreten Hinweisen aus Schule oder Nachbarschaft auf Vernachlässigung oder Gewalthandlungen, auf Drogen- oder Alkoholmissbrauch oder auf permanente Überforderung der Eltern mit Gleichgültigkeit begegnet ist. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass eine Mutter ihr Kind zurichtet, während der männliche Partner bewusst wegschaut. Exemplarisch für diese Misshandlungsverfahren ist der Strafprozess um die dreijährige Karolina, die im Januar 2004 nach einem langen Martyrium verstorben war[152].
c) Schütteltrauma-Fälle
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Das Schütteltrauma-Syndrom (SBS; „shaken baby syndrome“) ist eine Form der Kindesmisshandlung, bei der ein Säugling oder Kleinkind an Brustkorb oder Extremitäten gehalten und der Kopf durch ein kräftiges Schütteln in eine heftige unkontrollierte Bewegung mit einer ausgeprägten rotatorischen Komponente versetzt wird. Es kommt zum Abriss von Blutgefäßen (Brückenvenen) und Nervenverbindungen sowie durch einen initialen, kurzzeitigen Atemstillstand zur Hirnschwellung. Das klinische Bild des SBS ist – in variablen Kombinationen – gekennzeichnet durch Anzeichen einer schweren nichtentzündlichen Hirnschädigung, Unterblutungen der harten Hirnhaut (Subduralblutungen; SDB) und Einblutung der Netzhaut (retinale Blutungen; RB), Griffmarken an den Armen, seltener auch Frakturen der langen Röhrenknochen (Oberarmknochen, Elle, Speiche) oder Rippenfrakturen. Auffallend ist die nicht selten ungereimte Unfallanamnese. Die Letalität beträgt bis zu 30 %; bis zu 70 % der Überlebenden erleiden Langzeitschäden.
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Das Schütteltrauma bei Kleinstkindern wurde erst Mitte der 70er von der Rechtsmedizin wissenschaftlich beschrieben. Blutungen im Schädelinneren, die durch Schütteln oder Schlagen entstehen, waren bis dahin zumeist unentdeckt geblieben. Soweit äußerlich erkennbare Kennzeichen einer Misshandlung fehlten, wurde bei den Opfern durchweg Plötzlicher Kindstod diagnostiziert. Der sog. Plötzliche Kindstod oder Krippentod (SIDS = Sudden Infant Death Syndrom) betrifft Jahr für Jahr hunderte von Elternpaaren; im Jahr 2010 waren es genau 164 Todesfälle[153]. Verlässliche Daten zur Häufigkeit des Schütteltrauma-Syndroms liegen für Deutschland nicht vor. Schätzungen gehen von jährlich etwa 100 – 200 Todesfällen aus. Laut einer im Jahre 2005 veröffentlichten Studie zum Plötzlichen Säuglingstod in Deutschland ließ sich durch eine Obduktion in fast jedem 50. vermeintlichen Fall Plötzlichen Kindstods ein Schütteltrauma-Syndrom als Todesursache aufdecken[154]. Problematisch ist, dass es in sehr seltenen Einzelfällen auch bei banalen Stürzen aus geringer Höhe (z.B. vom Sofa) zur Entstehung schwerer und sogar tödlicher Blutungen durch Einriss von Hirnhautarterien und einem epiduralem Hämatom oder zum Einriss von Brückenvenen und damit zu einem massen- und druckwirksamen subduralen Hämatom kommen kann. Da sich die Symptome durchaus mit zeitlicher Verzögerung einstellen, ist längst nicht immer klar, auf welches konkrete Geschehen die jeweiligen Schädigungen zurückzuführen sind.
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Steht der Schuldige fest, stellt sich zur Abgrenzung eines Verletzungs- oder gar bedingten Tötungsvorsatzes von der (bewussten) Fahrlässigkeit regelmäßig die Frage nach der Bewusstseinslage des Täters. Welches Vorstellungsbild hatte er hinsichtlich der Folgen seines Handelns? Hat dieser selbst Rettungsbemühungen unternommen, kommt, wenn es beim Versuch geblieben ist, eventuell ein strafbefreiender Rücktritt in Betracht. Hat nur ein Elternteil Gewalt gegen das Kind geübt, könnte sich der andere dadurch mitschuldig gemacht haben, dass er nicht beizeiten gegen die Übergriffe eingeschritten ist und seinen Partner gedeckt hat, anstatt das Kind sofort in eine Kinderklinik zu bringen und Anzeige zu erstatten.
d) Kindestötung durch die Mutter nach der Geburt
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Der 1998 weggefallene § 217 a.F. StGB privilegierte Mütter, die ihr nichteheliches Kind in oder unmittelbar nach der Geburt töteten[155]. Die Vorschrift sollte der psychischen Zwangslage der Mutter eines unehelich geborenen Kindes Rechnung tragen. Nachdem sich unsere Gesellschaft längst an „Ehen ohne Trauschein“ und alleinerziehende ledige Mütter gewöhnt hat, findet auch die Unehelichkeit eines Kindes kaum noch Beachtung. Umso schockierender sind spektakuläre Babyleichenfunde aus der jüngeren Vergangenheit[156]: Verscharrt in Blumenkästen auf dem Balkon wurden im Sommer 2005 in der brandenburgischen Ortschaft Brieskow-Finkenheerd die Babyleichen von 7 Mädchen und 2 Jungen gefunden, die zwischen 1988 und 1998 zur Welt gebracht worden waren[157]. Die – voll schuldfähige – Mutter wurde rechtskräftig wegen 8-fachen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil sie ihre Neugeborenen unversorgt sterben ließ[158]. Der Erwerber eines Einfamilienhauses in Thörey bei Arnstadt (Thür.) stieß im Frühjahr 2007 beim Entrümpeln auf 3 Babyleichen. Die 21-jährige Mutter, eine ehemalige Mieterin, hatte die Kinder, die von drei verschiedenen Ex-Freunden der Frau stammten, im Alter von 16, 17 und 19 Jahren zur Welt gebracht und die Leichen versteckt[159]. Im November 2010 hat das LG Münster im Revisionsprozess[160] um die 3 getöteten Babys aus dem sauerländischen Wenden die Kindesmutter wegen zweifachen Totschlags – auch hier war ein Todesfall bereits verjährt – unter Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt[161]. Ende 2007 entdeckte die Polizei Plauen 3 in einer Wohnung versteckte Kindesleichen[162]. Die zerfallenen, teilweise skelettierten Überreste von 4 Säuglingen, eingewickelt in Plastikfolie und verborgen in einer Schublade,