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Nicht selten sind Ehrenmorde darauf zurückzuführen, dass sich junge Frauen einer Zwangsheirat entzogen oder widersetzt haben. Das am 01.07.2011 in Kraft getretene Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat (ZwHeiratBekG) v. 23.06.2011 (BGBl. I S. 1266 [Nr. 33]) ist ein erster wichtiger Schritt, der bundesdeutschen Rechts- und Werteordnung auch innerhalb rückständiger nichtdeutscher Familien oder Gemeinschaften Geltung zu verschaffen.
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Spektakuläre Strafprozesse über Ehrenmorde[128], in denen die Werte des deutschen Rechtsstaats und die verkrusteten Vorstellungen einer anatolischen, afghanischen oder yezidischen Parallelgesellschaft aufeinanderprallen, sind Zeitdokumente einer gescheiterten Integration.
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Erst im September 2010 hat der BGH das Ehrenmord-Urteil gegen einen 47 Jahre alten türkischen Angeklagten bestätigt, den im März 2010 das SchwurG Schweinfurt wegen der Ermordung seiner 15-jährigen Tochter zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt hatte[129]. Der in seinem Ehrgefühl verletzte Täter missbilligte die Beziehung seiner Tochter zu einem gleichaltrigen Freund. Nachdem sein Bemühen, die Tochter in die Türkei zurückzuschicken, gescheitert war, hatte er in der Nacht zum 24.06.2009 mit einem dreißig Zentimeter langen Fleischmesser 68-mal auf seine Tochter eingestochen. Aus Verteidigersicht stellt sich bei geklärter Täterschaft die Frage nach der Bewusstseinslage des verblendeten Tatverdächtigen in Bezug auf etwaige Mordmerkmale (Heimtücke und niedrige Beweggründe[130]) und – auch angesichts der engen Stichfolge – der verminderten Schuldfähigkeit wegen eines Affekts[131]. Die Tat beruht in diesen Fällen nach den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in Deutschland jedenfalls dann auf niedrigen Beweggründen, wenn der Täter bereits viele Jahre in Deutschland lebt, auch hier zur Schule gegangen und mit den deutschen Rechts- und Wertvorstellungen vertraut ist – so die Urteilsbegründung das LG Hamburg im Prozess um den Ehrenmord an der 16-jährigen Morsal O., die im Mai 2008 durch ihren 23-jährigen Bruder mit 23 Messerstichen getötet worden war, weil sie ihren Körper nicht genügend durch Kleidung verhüllt, sich zu stark geschminkt, heimlich Umgang mit Männern gepflegt, sich angeblich prostituiert und Drogen genommen hatte. Der Täter war mit seiner Familie 1992 aus Afghanistan in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt und hatte in der Folgezeit die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen[132].
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Häufig gibt es eine Vielzahl von tatverdächtigen Familienangehörigen, die als Haupttäter, Anstifter oder Gehilfen in Betracht kommen, wie etwa im Fall eines vom LG Kleve abgeurteilten Ehrenmordes. Ein 20 Jahre altes türkisches Mädchen musste die intime Beziehung zu seinem Freund mit dem Leben bezahlen[133]. Die junge Frau war durch einen Gehilfen an einen entlegenen Ort gelockt und dort von ihrem Bruder durch Angriffe gegen den Hals und durch das Zertrümmern des Schädels getötet worden. Der Vater hatte derweil plangemäß die andere Tochter abgelenkt[134].
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Dass archaische Strukturen auch überwunden werden können, zeigt der Fall eines durch das LG Limburg an der Lahn wegen versuchter Anstiftung zum Ehrenmord verurteilten Türken. Der aus Anatolien stammende, als Imam tätige und den heimatlichen Wertvorstellungen eng verbundene 47-jährige Angeklagte hatte entschieden, eine seiner Töchter im Sommer 2006 in die Türkei zu schicken, um sie dort mit ihrem Cousin, dem sie nie begegnet war, zu verheiraten. Es kam zur Verlobung, die die Tochter jedoch wieder löste, nachdem sie sich in der Türkei in einen anderen Mann verliebt hatte. Der Vater drohte seiner Tochter mit dem Tod, falls die Hochzeit nicht doch noch stattfinden werde. Die Tochter floh zur Familie ihres neuen Lebensgefährten, den sie auch heiraten wollte. Der Angeklagte bedrängte einen seiner Söhne, seine Schwester in der Türkei zu töten. Der verzweifelte Sohn offenbarte sich jedoch seinem Lehrer, der die Polizei verständigte[135].
b) Blutrache
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Das in einigen Regionen bestimmter Länder wie Italien (Vendetta), Albanien, Griechenland, ehem. Jugoslawien und Türkei oder innerhalb bestimmter Gemeinschaften, wie etwa den Yeziden, noch heute anzutreffende Prinzip der Blutrache ist eine archaische Reaktion auf tatsächlich erlittenes Unrecht[136]. Sie verlangt von den Familienangehörigen eines Getöteten, den Mord durch eine vergleichbare Bluttat an dem Mörder oder dessen Verwandten zu rächen[137]. Kennzeichnend für die Blutrache ist eine Familienfehde, deren Ursprünge unter Umständen sehr weit zurückreichen. Ist Rache geübt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wieder die andere Familie zuschlägt. Es ist ein nicht endender Kreislauf der Gewalt. Ist der Konflikt zwischen den Familien bislang über eine Körperverletzung nicht hinausgegangen, lässt sich Schlimmeres vielleicht noch durch eine offizielle Aussöhnung beider Familien unter Einschaltung eines Vermittlers (Friedensrichters) abwenden. Wenn nicht, entstehen über Generationen hinweg anhaltende Blutfehden zwischen Familien, Dörfern und Stämmen. Mitunter genügt schon die Verletzung der Ehre oder ein als Tötungsversuch gedeuteter Gewaltangriff als Ausgangspunkt einer langjährigen Blutsfeindschaft. Familienfehden, die schon vor Ewigkeiten in der Türkei begannen, finden u.U. bei uns ihre blutige Fortsetzung mit weiteren unschuldigen Todesopfern.
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Längst nicht immer lässt sich das die Blutfehde auslösende Ereignis sicher rekonstruieren. Es ist mitunter nur noch das „Wissen“ vorhanden, dass die Vorfahren beider Familien dereinst in der Türkei über Schafe in Streit geraten sind und mittlerweile beide Familien 3 oder 4 Tote zu beklagen haben. Und man weiß, welche Familie zuletzt Blutzoll gezahlt hat und nun, was die Blutrache anlangt, „am Zuge ist“. Mehrfach sind mir in Blutrachefällen polizeiliche Vernehmungsprotokolle begegnet, in denen ein Sohn des soeben Getöteten von der bestehenden Familienfehde berichtet und zugleich unumwunden kundtut, seinerseits den Tod des Vaters rächen zu wollen.
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Höchst problematisch ist die Verteidigung eines unschuldigen Jugendlichen, der, wie es vor Jahren in Saarbrücken geschehen ist, durch seine yesidische Familie „bestimmt“ wurde, die Bluttat, die nicht er, sondern andere erwachsene Familienmitglieder begangen haben, unter Inkaufnahme einer maßvollen Jugendstrafe durch ein Falschgeständnis[138] auf sich zu nehmen.
5. Kinder als Opfer von Mord und Totschlag
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Die Zahl der Kindestötungen ist alarmierend angestiegen. Glaubt man der PKS, dann ist im Jahre 2010 jeden zweiten Tag in Deutschland ein Kind umgebracht worden. Insgesamt wurden 183 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren getötet, 2009 waren es noch 152[139].
a) Sexualmorde an Kindern
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Die mediale Resonanz auf Sexualmorde an Kindern oder Jugendlichen ist gewaltig. Entsprechend stark ist denn auch die Anteilnahme in der Bevölkerung, wenn sie vom plötzlichen Verschwinden eines namentlich genannten Kindes und wenig später vom Auffinden der Kindesleiche erfährt. Über Abscheu und Entsetzen lösen Berichte über ermordete Kinder bei vielen Eltern große Beunruhigung aus. Nicht immer ist die Sorge völlig unbegründet: Über ein Jahrzehnt fahndete die SoKo „Dennis“ nach dem „Maskenmann“, einem mutmaßlichen Serientäter, der zwischen 1992 und 2004 fünf Jungen getötet und mehr als 40 sexuell misshandelt haben soll. Immer wieder soll er nachts unbemerkt in Schullandheime, Internate und Zeltlager eingedrungen sein und Jungen einer bevorzugten Altersgruppe mit ähnlicher Statur missbraucht oder entführt haben[140].