c) Extensiverer Maßstab beim Vorsatzdelikt wegen fehlenden Drohens einer Überforderung
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Scheint mithin in manchen, nicht aber in allen Fällen ein „fahrlässigkeitsäquivalenter Verhaltensvorwurf“ Voraussetzung auch einer Vorsatzstrafbarkeit zu sein, so ergeben sich daraus zwei Hypothesen: Zum einen müsste der aus der Fahrlässigkeitsdogmatik bekannte Maßstab zwar beim Vorsatzdelikt grundsätzlich ähnlich gelten, aber in bestimmten Fällen weniger streng sein.[118] Zum anderen scheint entscheidend zu sein, aus welchem Grund eine entsprechende Fahrlässigkeitsstrafbarkeit scheitern würde. Eine Lösung, die mit beiden Hypothesen kompatibel ist, kann dabei wie folgt differenzieren:[119]
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Ein Grund für das Ausscheiden auch einer Vorsatzstrafbarkeit ist nicht ersichtlich, soweit eine Fahrlässigkeit nur ausscheiden würde, weil (insbesondere bei inadäquaten oder nur schwer exakt vorhersehbaren Gefahren) anderenfalls die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht überspannt würden. Während ein zu strenger Maßstab für eine Fahrlässigkeitshaftung die Handlungsfreiheit angesichts drohender Strafbarkeitsrisiken unzumutbar einschränken würde,[120] wird der Täter mit mehr oder weniger sicherer Voraussicht des Erfolgseintritts nicht übermäßig belastet; denn die Fälle, in denen der Täter Kenntnis von einem an sich kaum vorhersehbaren Kausalverlauf hat, machen nur einen weitaus kleineren Teil aus.
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Dagegen kann auch eine Vorsatzstrafbarkeit überzeugend abgelehnt werden, soweit eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ausscheidet, weil etwa der Schutzzweck der verletzten Norm nicht betroffen ist, ein Fall der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung vorliegt oder für die Straflosigkeit Sozialüblichkeit und die Geringfügigkeit der Gefahr ausschlaggebend sind. M.a.W.: Von den Verantwortlichkeitseinschränkungen, welche die Fahrlässigkeitsdogmatik kennt, sind nur diejenigen auf das Vorsatzdelikt übertragbar, die mit der Schutzbedürftigkeit des betroffenen Rechtsguts zu tun haben[121] oder die das regelmäßige, objektive Gefährdungspotential des Verhaltens betreffen.[122] Dagegen sind solche Einschränkungen nicht übertragbar, die auf der drohenden Überforderung des Bürgers durch das Strafrecht beruhen.[123]
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Diese – in Auseinandersetzung mit dem o.g. Standpunkt Herzbergs stark von der Fahrlässigkeit her argumentierenden – Überlegungen treffen sich auch mit den Grundsätzen, die verbreitet als Leitgedanken für die objektive Zurechnung beim Vorsatzdelikt benannt werden:
– | Eine objektive Bezweckbarkeit, wie insbesondere Honig sie in seinen grundlegenden Erörterungen zur Zurechnungslehre in der Festgabe für Frank gefordert hat,[124] mag zwar oftmals beim Fehlen von Fahrlässigkeit ausscheiden.[125] Sie kann aber in Fällen, in denen die Gefahr üblicherweise kaum erkennbar ist und daher Sorgfaltspflichtverletzungen nicht vorliegen, durchaus zu bejahen sein, wenn der Täter die Gefahr ausnahmsweise kennt und deshalb beherrscht. |
– | Auch die Eignung zur generalpräventiven Verhaltenssteuerung[126] kann bei fehlender Fahrlässigkeit zu verneinen sein.[127] Sie ist aber bei Kenntnis des Erfolgseintritts typischerweise eher gegeben als bei bloßer Fahrlässigkeit, da das Verhalten hier viel leichter an der Verbotsnorm ausgerichtet werden kann. |
– | Zuletzt mögen übertriebene Verhaltensanforderungen kriminalpolitisch sinnlos, da unerfüllbar sein.[128] Soweit aber vorsätzlich – und damit konkret und bewusst vermeidbar – gehandelt wird, kann ein erwünschter Rechtsgüterschutz kriminalpolitisch sinnvoll durch strafrechtliche Sanktionen gewährt werden.[129] |
4. Zusammenwirken von objektiven und subjektiven Handlungsunrechtselementen
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Für die Frage nach der Missbilligung des Verhaltens bei vorsätzlicher Erfolgsherbeiführung und damit nach der Bestimmung des Handlungsunrechts führt dies zu folgendem Ergebnis: Das Handlungsunrecht des Vorsatzdelikts wird durch objektive Elemente der Art und Weise des Verhaltens sowie durch subjektive Elemente[130] und dabei insbesondere den Vorsatz geprägt. Dabei sind auch beim Vorsatzdelikt die objektiven Komponenten nicht generell oder vollständig durch vorhandene (und vielleicht sogar besonders stark ausgeprägte) subjektive Komponenten ersetzbar. Ein Verzicht auf jegliches objektives Handlungsunrecht alleine wegen des Vorliegens von Vorsatz würde nicht nur der h.L., die entsprechende Zurechnungskorrektive anerkennt, widersprechen und dem durch die unterschiedlichen Strafrahmen verdeutlichten Unrechtsgefälle zum Fahrlässigkeitsdelikt nicht gerecht werden. Vielmehr würden auch ganz unterschiedlich gefährliche, mittelbare oder unmittelbare, nahezu sichere und ganz unwahrscheinliche Verletzungshandlungen über einen Kamm geschoren, wenn nur ein entsprechender Vorsatz vorliegt.[131]
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Dennoch müssen umgekehrt auch nicht immer alle objektiven und subjektiven Komponenten gleich und in jeweils vollem Ausmaß und Umfang ausgeprägt sein. Insbesondere ist nicht selbstverständlich, dass trotz der erhöhten subjektiven Komponente jeweils in völlig identischer Weise auch der objektive Handlungsunwert erfüllt sein müsste. Jenseits der Minimalgrenze der nicht vollständigen Ersetzbarkeit (vgl. o.) lassen sowohl die Vorstellung eines qualitativ gesamtbewertenden Urteils[132] als auch das Bild einer additiven Zusammenfügung von objektivem und subjektivem Handlungsunrecht zu, dass ein Plus des einen Elementes gewisse Defizite des anderen ausgleicht, insbesondere soweit diese funktionsäquivalent sind.[133]
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Ganz konkret erscheint ein Verzicht auf solche objektiven Komponenten i.S. eines gewissen Grades an Sorgfaltspflichtverletzung und Vorhersehbarkeit möglich, wenn der Vorsatz des Täters zu bejahen ist. Denn diese Grenzen für eine Fahrlässigkeitshaftung bestehen ja gerade nur im Interesse des Nicht-Wissenden, um dessen Sorgfalts- und Nachprüfungspflichten nicht maßlos überzustrapazieren. Daneben legt eine solche Zusammenschau von objektiven und subjektiven Handlungsunrechtselementen durchaus nahe, dass bei verschiedenen objektiven Handlungsunwerten auch ein unterschiedlicher Grad an subjektivem Handlungsunwert erforderlich ist bzw. genügen kann.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 29 Handlungs- und Erfolgsunrecht sowie Gesinnungsunwert der Tat › D. Erfolgs- und Handlungsunrecht in der Rechtsprechung
D. Erfolgs- und Handlungsunrecht in der Rechtsprechung
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Wie bereits angedeutet, tauchen die Begriffe des Erfolgs- und Handlungsunrechts (bzw. „Unwerts“) in der Rechtsprechung – zumindest im Zusammenhang mit dogmatischen Streitfragen – kaum auf (was in Anbetracht dessen, dass die tatbestandsorientierte Jurisprudenz ohnehin nur in Ausnahmefällen auf abstrakte Begrifflichkeiten der allgemeinen Verbrechenslehre zurückgreift, auch nicht überrascht).[134] Indessen wird dieses Begriffspaar sehr häufig im Rahmen der Strafzumessung herangezogen, genauer: in Bezug