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Daran ist ohne Zweifel richtig, dass die Trennung zwischen objektiver Zurechnung und der Berücksichtigung subjektiver Elemente nicht so klar und scharf vollzogen werden kann, wie es die Terminologie vielleicht glauben macht. Dies wird etwa bei der Berücksichtigung von Sonderkenntnissen des Täters deutlich, die haftungsbegründend wirken können, wenn ein ganz unwahrscheinlicher „objektiv nicht bezweckbarer“ Geschehensablauf vorliegt, den der Täter individuell aber vorhersehen kann.[103] Allerdings sind zum einen nicht alle Fallgruppen der objektiven Zurechnung so „gestrickt“; vielmehr sind etwa im Rahmen des erlaubten Risikos[104] bzw. durch entsprechende Sondernormen auch explizite „Verletzungserlaubnisse“ vorstellbar.[105] Zum anderen bietet es eine zwar gewiss nicht unverzichtbare,[106] aber dennoch wertungsmäßig interessante Feststellung, ob die fehlende Zurechnung auf individuellen Defekten des Täters oder bereits auf dem objektiven Fehlen einer unerlaubten Gefahrschaffung beruht. Die (weniger schlimme Alternative der) Dysfunktionalität dahingehend, dass „zwei Filter“ mit gleicher Wirkung auf verschiedenen Stufen angebracht werden, wird dadurch wettgemacht, dass der Filter nicht nur (im Prüfungsschema und damit in der Begriffsbildung) früher, sondern auch dort angebracht wird, wo er inhaltlich hingehört.
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Zum anderen sei die Vorsatzhaftung auch unabhängig von der Feststellung von Sorgfaltswidrigkeiten, was Kindhäuser mit einem Beispiel zu verdeutlichen sucht: Analysiere man das „Verbot der Brandstiftung durch unsorgfältigen Umgang mit Streichhölzern“, sei offensichtlich die Eigenschaft „‚unsorgfältig‘ nicht verbotskonstitutiv, wenn man das merkwürdige Ergebnis vermeiden will, daß Brandstiftung durch sorgfältigen Umgang mit Streichhölzern erlaubt sei“.[107] Freilich wird dieses Ergebnis weniger „merkwürdig“, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es hier letztlich um einen (bewusst oder unbewusst) abweichenden Begriff der „Sorgfaltswidrigkeit“ geht. Während Kindhäuser in seinem Beispiel die sorgfältige (und damit nicht sorgfaltswidrige) i.S.d. genau überlegten Benutzung der Streichhölzer in den Mittelpunkt rückt (die beim Anzünden eines Hauses in gleicher Weise vorliegen kann wie beim Anzünden der Kerze an einem Adventskranz), wäre nach tradiertem Verständnis die (Sorgfalts‑)Pflichtverletzung bei der vorsätzlichen Brandstiftung in der Verwendung der Streichhölzer im konkreten sozialen Kontext zu sehen. Das vorsätzliche Entzünden eines fremden Hauses kann daher ohne weiteres „sorgfältig“ vorgenommen werden, ohne dass das Verhalten deswegen pflichtgemäß wäre.
3. Konstitutive Handlungsunrechtselemente beim Vorsatzdelikt – zum Wechselspiel von Intentionsunrecht und objektiven Handlungsunrechtselementen
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Sollen nun die objektiven Handlungsunrechtskomponenten beim Vorsatzdelikt näher umschrieben werden, so scheint sich bereits mit der Benennung einer „pflichtwidrigen Risikoschaffung“ als Voraussetzung eines auch „objektiven“ Handlungsunrechts, aber auch auf Grund der vorangegangenen Ausführungen schon terminologisch die Frage aufzudrängen, ob hier nicht letztlich aus der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bekannte Elemente auch zur Konturierung der Vorsatzstrafbarkeit herangezogen werden können bzw. sogar müssen oder aber ob die Anforderungen an die objektive Pflichtwidrigkeit des Verhaltens – da beim Vorsatzdelikt eben nur einen Teil des Handlungsunrechts ausmachend – niedriger anzusetzen sind:
a) „Fahrlässigkeit“ als Voraussetzung jedes Vorsatzdelikts?
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Die extremste und voraussetzungsvollste Position ließe sich damit beschreiben, dass auch beim Vorsatzdelikt das Handlungsunrecht in identischer Weise begründet werden muss wie beim Fahrlässigkeitsdelikt, bei dem nach seit langem einhelliger Auffassung die Pflichtwidrigkeit auch als objektives Verhaltensmoment erforderlich ist,[108] um den Unrechtstatbestand zu begründen. Eine Gleichschaltung des Handlungsunrechts bei Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelikt würde nun dadurch erreicht, dass – wie insbesondere von Herzberg immer wieder pointiert gefordert wird – „Fahrlässigkeit (sc. zur) Voraussetzung jeder Vorsatzhaftung“ gemacht würde, d.h. dass keine Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdeliktes bejaht werden könnte, wenn der Täter durch das gleiche Verhalten – den Vorsatz hinweggedacht – nicht auch ein Fahrlässigkeitsdelikt begangen hätte.[109] Ganz ähnlich klingt das etwa[110] auch bei Jakobs, wenn er feststellt, dass „eine (. . .) sorgfaltsgemäße Vorsatztat (. . .) eine contradictio in adiecto“ wäre,[111] und schon 35 Jahre früher bei Krauß, der meint, dass „niemand wegen einer vorsätzlichen Tat bestraft werden kann, der nicht auch ohne Vorsatz bei entsprechender Strafdrohung wegen fahrlässiger Begehung bestraft würde.“[112]
b) Kritik
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Obgleich die Übertragung von in der Fahrlässigkeitsdogmatik schon länger bekannten Elementen auf das Vorsatzdelikt für das Verständnis einzelner Fallgruppen der objektiven Zurechnung hilfreich ist, erscheint eine völlige Gleichsetzung nicht überzeugend. Dass nicht in jedem Fall, in dem eine Vorsatzstrafbarkeit zu bejahen ist, ohne Vorsatz zugleich auch eine Fahrlässigkeit bejaht werden kann, lässt sich zunächst an einem Beispiel verdeutlichen:[113] Auf einer ordnungsgemäß abgesperrten und gesicherten Abrissbaustelle schaufelt Bauarbeiter B in einem oberen Stockwerk Bauschutt in eine große, extra für diese Zwecke angebrachte Röhre, in welcher der Schutt nach unten fällt.
– | Variante a: Ohne dass B dies merken kann, hat Passant P die Absperrung überwunden und geht am Abrisshaus entlang, um einige Meter Weg zu sparen. Gerade, als er unten am Ende der Röhre vorbeikommt, kommt eine Ladung Schutt unten an; ein Ziegelstein trifft P und verletzt ihn. |
– | Variante b: B ärgert sich, dass immer wieder Passanten den Weg abkürzen; als er P unten am Haus vorbeilaufen sieht, passt er ihn genau ab, wirft eine Schaufel Schutt in die Röhre und tritt – wie erhofft und berechnet – den unten vorbeilaufenden P. |
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Während man in Variante a kaum überzeugend eine Fahrlässigkeit (§ 229 StGB) des B annehmen kann, erschiene es in Variante b ebenso befremdlich, den Tatbestand des § 223 StGB zu verneinen, und zumindest äußerst gekünstelt, diese erst mittels Hilfskonstruktionen wie der actio illicita in causa, einer mittelbaren Täterschaft o.ä. zu begründen. Zwar mag man auf den ersten Blick gegen dieses Beispiel einwenden, dass B, der ursprünglich die Kenntnisse aus Variante b hatte (d.h. den P gesehen hatte), aber konkret nicht mehr an die Gefährlichkeit dachte oder auf einen guten Ausgang vertraute (und z.B. P nur erschrecken wollte), natürlich doch wieder fahrlässig handeln würde. Bei dieser Blickweise, welche die (sonst fehlenden) Voraussetzungen des Vorsatzdelikts in das Fahrlässigkeitsdelikt implementiert, würde aber nicht nur die Aussage, dass in jedem Vorsatz- zugleich ein Fahrlässigkeitsdelikt steckt, ihre informative Substanz weitgehend verlieren. Vielmehr würde dann auch eine Voraussetzung des subjektiven Tatbestandes benötigt, um (über den Hebel der dann bejahbaren Fahrlässigkeit) über die objektive Tatbestandsmäßigkeit zu entscheiden.
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Aber auch die Gesetzessystematik spricht gegen einen solchen Gleichsetzungsautomatismus, wie sich an der Regelung des § 16 Abs. 1 StGB zeigen lässt:[114] Nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB handelt der Täter im Tatbestandsirrtum (nur) ohne Vorsatz, d.h. aber gleichzeitig offenbar regelmäßig objektiv tatbestandsmäßig. Nach § 16 Abs. 1 S. 2 StGB bleibt die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung unberührt; dies bedeutet aber nach einhelliger Auffassung nicht etwa, dass der irrende Täter sich stets wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts strafbar gemacht hat, sondern nur, dass zu prüfen ist, ob der Irrtum bei Erfüllung aller Sorgfaltspflichten vermeidbar gewesen wäre.