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Anders gewendet: Soweit man das Erfolgsunrecht auf die Verletzung von Individualrechtsgütern oder sonst irgendwie geartete manifestierte Gefährdungsakte in Abgrenzung zum Außenwelterfolg als begrenzendes Tatbestandsmerkmal beschränken will, heißt dies nicht, dass die Lehre vom konstitutiven Erfolgsunrecht überflüssig, weil vom Gesetzgeber ohnehin nicht beachtet wäre[54] (was umso mehr gilt, als der Gesetzgeber an die Verfassung und nicht an eine hiervon losgelöste Unrechtslehre gebunden ist). Vielmehr kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass der Gesetzgeber eben dort, wo er solch ein Erfolgsunrecht im engeren Sinne verlangt – also für die konkrete Deliktsbegehung und den damit einhergehenden Strafrahmen etc. das Erfolgsunrecht für konstitutiv erachtet (und insofern auch die Konsequenzen aus dessen Fehlen bzw. dessen Kompensation zu ziehen sind) – in einem engen Sinne „klassisch“ bzw. „typisch“ strafrechtliches Unrecht umschreibt, während dort, wo auf ihn verzichtet wird, immer darüber diskutiert werden kann, ob bzw. inwieweit dieser Verzicht auch legitim ist.[55] Dies verträgt sich auch insofern mit dem Charakter des Unrechts, als ein hinzutretendes Erfolgsunrecht dessen Umfang näher konkretisiert. Stellt man sich auf den Standpunkt, dass lediglich sichtbare Verletzungen bzw. Beeinträchtigungen von Rechtsgütern unter den Begriff des Erfolgsunrechts fallen, bleibt dies im Übrigen weitestgehend ohne Folgen, wenn man bedenkt, dass die dogmatischen Auswirkungen des zweibasigen Konzepts ohnehin überwiegend Delikte betreffen, welche Individualrechtsgüter schützen.
III. Fazit: Partikulärer Unrechtsbegriff?
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Man könnte also versucht sein, zur Erhaltung des „Erfolgsunrechts“ dessen Substanz selbst aufzugeben, um mit der gesetzgeberischen Wirklichkeit einher zu gehen. Ein Erfordernis diesbezüglich besteht jedoch nicht. Insofern sind sich die geschilderten Ansätze äußerst ähnlich. Sie begehen denselben Fehler, soweit sie sich um einer besseren Verträglichkeit mit der lex lata willen selbst aufgeben:[56] Während dies im Rahmen der dualistischen Lehre zum Teil mit einer Modifikation des Erfolgsunrechts versucht wird, schneidet sich die monistisch-subjektive Lehre ins eigene Fleisch, wenn sie die Relevanz für Eintritt und Höhe der Strafe damit begründet, dass die Gesellschaft an einer erfolgreichen Straftat mehr Anstoß nimmt als an einer erfolglosen, obwohl dies nach dem normtheoretischen Konzept des Unrechts gerade keine Rolle spielen dürfte.[57]
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Da sich beide Auffassungen „in Reinform“ mit dem geltenden Recht nicht vereinbaren lassen, müssen sie gleichsam autonom bleiben, soweit sie als System kohärent bleiben sollen. Die hier angestellten Überlegungen dürften jedoch deutlich gemacht haben, dass man die Früchte der Unrechtslehre für die Dogmatik nur ernten kann, wenn man einen Mittelweg einschlägt: Dieser hat seinen Ansatz in der Erkenntnis, dass die Unrechtsqualität menschlichen Verhaltens nicht abstrakt, sondern nur anhand der konkreten Verhaltensnorm bestimmt werden kann.[58] Dies führt zu einem partikulären Unrechtsbegriff, dessen konstitutive, unrechtserhöhende oder verzichtbare Komponenten vom Ausmaß der Verhaltensnorm und deren Stoßrichtung abhängig sind. Solch ein Unrechtsbegriff lässt sich auch besser in das geltende Recht integrieren, weil die lex lata dann als (korrigierbare) Zwischenentscheidung dahingehend zu deuten ist, welche Komponenten im jeweils betroffenen Bereich für notwendig erachtet werden.
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So lässt sich begründen, dass eine Prüfung des Vorliegens von Erfolgsunrecht neben dem stets notwendigen Element des Handlungsunrechts sich einmal erübrigt (so – zumindest weitgehend – beim Versuch, bei schlichten Tätigkeitsdelikten, aber auch bei solchen Erfolgsdelikten, die noch keine Verletzung eines Rechtsguts bedeuten), einmal als „Teilmenge“ fungiert, welche das Ausmaß des Unrechts konkretisiert, und ein weiteres Mal gar mitkonstitutiv wirkt, soweit das Handlungsunrecht allein bzw. ein Verhaltensnormverstoß (Fahrlässigkeit) das Unrecht nicht begründen kann. Dementsprechend unterschiedlich kann das Beziehungsverhältnis der beiden Komponenten zueinander sein (vgl. noch Rn. 15 f.), wobei man auch das Verhältnis der objektiven Komponente des Handlungsunrechts zu seiner subjektiven nicht vernachlässigen darf (vgl. noch Rn. 33 ff.). Eine andere Frage bleibt, ob das partikuläre Unrecht gesetzgeberisch richtig „umgesetzt“ wurde, ob also die Einschätzung zutrifft, welche der Komponenten des Unrechts strafbarkeitsbegründend wirken müssen. Dann führt der Unrechtsbegriff weitere „strafrechtsspezifische“ Ausprägungen des Verfassungsrechts – insb. den fragmentarischen Charakter bzw. die Subsidiarität[59] – am Ziel eines verfassungsrechtlich legitimen (weil materiellen Unrechtsgehalt aufweisenden) Strafgesetzes zusammen.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 29 Handlungs- und Erfolgsunrecht sowie Gesinnungsunwert der Tat › C. Die Komponenten des Erfolgs- und Handlungsunrechts in der Verbrechenslehre
I. Ausgangspunkt
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Das Unrecht setzt sich folglich aus den Komponenten des (Verletzungs-)Erfolgsunrechts und des Handlungsunrechts zusammen, welches seinerseits in die Elemente des Intentions- und Verhaltensunrechts (bzw. objektiven Handlungsunrechts) zerfällt. Wie bereits angemerkt, stehen die beiden Komponenten nicht beziehungslos nebeneinander, sondern es besteht zumindest in denjenigen Fällen, in denen man das Erfolgsunrecht für konstitutiv erachtet, eine innere Verknüpfung dahingehend, dass ein Handlungsunwert nur gegeben ist, wenn die Handlung auf einen Erfolgsunwert bezogen ist.[60]
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Der Wert dieser Aufteilung für die Verbrechenslehre liegt im schematischen Zugriff auf die Komponenten,[61] wonach nur das Vorliegen beider das „perfekte Delikt“ ausmacht. Fehlt das Erfolgsunrecht, kann dies – soweit ein Handlungsunrecht gegeben ist – je nach Art und Ausmaß des Handlungsunrechts eine Versuchsstrafbarkeit begründen, wobei man darüber diskutieren kann, in welchem Verhältnis Intentions- und objektives Handlungsunrecht stehen (vgl. noch Rn. 33 ff.). Fehlt es hingegen am Intentionsunrecht, kann das Handlungsunrecht in Form des Sorgfaltsmangelunrechts im Übrigen allenfalls eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründen, wenn ein Erfolgsunrecht gegeben ist[62] bzw. das objektive Handlungsunrecht für sich kriminalisiert wurde.[63] Insb. für schlichte Tätigkeitsdelikte bzw. abstrakte Gefährdungsdelikte gilt: Wo bereits das Handlungsunrecht allein konstitutiv wirkt, kann es keinen Wegfall des Erfolgsunwertes geben, sodass die Versuchsstrafbarkeit auch nicht hieran auszumachen ist, wie dies bei den Verletzungsdelikten gehandhabt wird. Geht man hingegen davon aus, dass bei den schlichten Tätigkeitsdelikten die „erfolgreiche Vornahme“ also die Tatbestandsverwirklichung eine gegenüber dem objektiven Handlungsunrecht erhöhte Wertwidrigkeit markiert, bleibt trotz erheblicher Einbußen an materiellem Gehalt des objektiven Handlungsunrechts einerseits und des Erfolgsunrechts andererseits eine Anknüpfung an beide Begrifflichkeiten möglich.