4. Arbeitsmaterial
40
Der Präsident des Gerichts hat sich vor nicht allzu langer Zeit mit folgendem Satz an die Anwaltschaft gewandt: „Der gute Jäger kennt sein Wild, der gute Boxer seinen Gegner, der gute Anwalt das Gericht“. Dem ist, ungeachtet der interessanten Metaphorik,[85] in der Sache ohne Einschränkungen zuzustimmen. Entscheidend kann es nach alledem sein, rasch einen pragmatischen Überblick über das zur Verfügung stehende Arbeitsmaterial zu bekommen. Es soll deshalb kurz zusammengefasst werden, welche Quellen dem Beschwerdeführer als Hilfestellung an die Hand gegeben werden.
41
Ausgangspunkt für die zulässige Einlegung der Verfassungsbeschwerde muss der Wortlaut des BVerfGG sein. Angesichts der ausufernden Auslegungspraxis des Gerichts ist er aber in vielen Fragen praktisch nutzlos, denn die Zulässigkeitsrechtsprechung des Gerichts hat sich in vielen kleinen Schritten weit von dem entfernt, was der Rechtsschutzsuchende aus dem Gesetz entnehmen kann.[86] Ergänzend kann das vom Gericht herausgegebene Merkblatt zur Verfassungsbeschwerde herangezogen werden.[87] Hierfür gilt jedoch leider Ähnliches.
42
Weiteren Aufschluss bei Spezialfragen liefert daher nur ein Blick auf die etablierten BVerfGG-Kommentare[88] und die bisher ergangene Senatsrechtsprechung. Zwar vollzieht sich ein Großteil der Entwicklung in der teils nicht veröffentlichten Kammerrechtsprechung; die Kammern können in Fragen des Verfassungsprozessrechts nämlich auch bei grundsätzlicher Bedeutung selbst entscheiden. Sie müssen sich dabei aber im Rahmen der vorhandenen Senatsrechtsprechung halten.[89] Hier zeigt sich in neuerer Zeit ein Bemühen, verstärkt auf die Substantiierungslasten einzugehen. Mittlerweile sind beinahe alle wesentlichen Aspekte von der Senatsrechtsprechung bestätigt worden. Nun hat der Anwalt die amtliche Sammlung der Senatsentscheidungen von mittlerweile immerhin 141 Bänden aber in aller Regel nicht im Kopf, und selbst der verfassungsrechtlich interessierte Spezialist wird sich vorrangig mit materiellen Fragen beschäftigen. Hinzu kommt, dass sich nicht jeder (Fach-) Anwalt die amtliche Entscheidungssammlung selbst oder die einschlägigen Kommentare halten wird, zumal der Arbeitsanfall durch Verfassungsbeschwerden aufs Ganze gesehen eher gering ist.[90]
43
Das Gericht selbst hat in den letzten Jahren seine Öffentlichkeitsarbeit deutlich ausgebaut, was die Beschaffung des und die Arbeit mit dem verfassungsprozessualen Rechtsstoff erleichtert.[91] Zu nennen ist zum einen die amtliche Entscheidungssammlung BVerfGE, welche von den Mitgliedern des BVerfG herausgegeben wird (§ 31 GOBVerfG) und seit 2002 auch auf CD-ROM – mit freilich noch ausbaufähigen Suchfunktionen – erhältlich ist. Hinzu kommt die Sammlung BVerfGK, deren Inhalte seit 2009 bis zur Einstellung mit BVerfGK 20[92] ebenfalls auf CD-ROM zugänglich sind sowie der seit 1999 für jedermann zugängliche Internetauftritt des Gerichts unter www.bverfg.de. Dort werden alle umfangreicher begründeten Entscheidungen kostenlos zur nicht kommerziellen Nutzung zur Verfügung gestellt; seit dem 1.1.2016 liegen die Vermarktungsrechte der Entscheidungen nicht mehr exklusiv bei der juris GmbH.[93]
Anmerkungen
Treffend deshalb der Titel des Buches von Lamprecht Ich gehe bis nach Karlsruhe – Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts 2011.
Papier DVBl. 2009, 473 (475: „rund 2,5 %“); siehe bereits v. Löbbecke GS Nagelmann, 1984, S. 395 (396), mag auch in Teilbereichen und zu Zeiten der Anteil unzulässiger Verfassungsbeschwerden in Strafsachen rückläufig gewesen sein; so etwa vor einem Jahrzehnt für Verfassungsbeschwerden aus den Bereichen Strafvollzug und Untersuchungshaft Lübbe-Wolff/Lindemann NStZ 2007, 450 (451); eingehendere statistische Angaben speziell zu Verfassungsbeschwerde-Strafsachen bei Jahn FS Widmaier, 2008, S. 821 (827); Reichart Revision, S. 35 ff.
Jestaedt in: Jestaedt/Lepsius u.a., S. 77 (117).
Jestaedt in: Jestaedt/Lepsius u.a., S. 77 (118), allerdings nicht differenzierend nach Straf- und Zivilsachen.
Patzelt in: van Ooyen/Möllers, S. 313 (314), dort auch mit weiteren (gleichsinnigen) statistischen Angaben.
Ähnlich Sommer Rn. 2377 ff. Für polemische Zuspitzungen wie bei (RiBFH) Selder ZRP 2011, 164 (165) – Kostprobe: „Beim BVerfG haben auch Verfassungsbeschwerden Erfolg, die aussichtslos erscheinen, bei anderen Beschwerden wird nach dem Motto ‚je begründeter, desto unzulässiger‘ verfahren, wie es von wissenschaftlichen Mitarbeitern des BVerfG kolportiert worden ist“ – besteht kein hinreichender Anlass (vgl. auch Hömig ZRP 2012, 58 [59]).
So der viel sagende Untertitel eines Aufsatzes zur Verfassungsbeschwerdejudikatur des Gerichts von Lübbe-Wolff AnwBl. 2005, 509; zur „Karlsruher Lotterie“ auch Lamprecht NJW 2000, 3543; Kunig VVdStRL 61 (2002), 34 (49 f.) sowie aus Anwaltssicht zusf. Stüer DVBl. 2012, 751 (756): „Von den 188.187 Verfassungsbeschwerden der letzten 60 Jahre waren 4.401 erfolgreich. Wenn damit nur ein Bruchteil von 2,4 % der Verfassungsbeschwerden ein Erfolg beschieden war – eine etwa gleichhohe Chance, wie beim Lotto zu gewinnen […] dann liegt das nach Aussage der Verfassungsrichter an einer einfachen Erkenntnis: Wir leben eben nicht in einer Republik, in der ein Verfassungsverstoß an der Tagesordnung ist“.
Aufschlussreich wiederum Lübbe-Wolff EuGZR 2004, 669 (682). In dem von Lübbe-Wolff verfassten abweichendem Votum zu BVerfGE 112, 1 (45) = NVwZ 2005, 5650 wurde die Zulässigkeitsrechtsprechung zur Subsidiarität und Substantiierung ausdrücklich als „diskussionsbedürftig“ bezeichnet. In den seither erschienen 29 Bänden der amtlichen Sammlung der Senatsentscheidungen wird diese Forderung an keiner einzigen Stelle aufgegriffen.
Richtig Zuck Verfassungsbeschwerde, Rn. 8a.