2. Grundsatz der Subsidiarität
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Das Augenmerk des Verteidigers sollte sodann insbesondere auf der Erfüllung der Anforderungen liegen, welche das BVerfG unter Berufung auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde stellt. Denn tatsächlich beginnt die Verfassungsbeschwerde natürlich auch in Strafsachen schon im Ausgangsverfahren – auch dies macht sie dem Verhältnis des Verfahrens in der Tatsacheninstanz zum strafprozessualen Revisionsverfahren vergleichbar. Ein wesentlicher Teil der Arbeit muss hier bereits erledigt worden sein, soll die Beschwerde nicht bereits als unzulässig zurückgewiesen werden.[68] Ein nicht unerheblicher Anteil der zu ergreifenden prozessualen Behelfe ist zudem im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen und wird dem Beschwerdeführer bzw. seinem Anwalt erst recht nicht mittels Rechtsbehelfsbelehrung bekannt gemacht.[69] Nimmt der – erstmalig mit dem Verfassungsbeschwerdeverfahren betraute – Rechtsanwalt unser Buch erst am Ende des fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens zur Hand, sind daher nicht selten sämtliche Chancen für die Erhebung einer zulässigen Verfassungsbeschwerde längst dahin. Er muss also in seinem eigenen Interesse entsprechende Nachforschungen über das Prozessverhalten im fachgerichtlichen Ausgangsverfahren anstellen, will er nicht für dessen Fehler – auch finanziell – büßen (§ 34 Abs. 2 BVerfGG).[70] Er hat daher festzustellen, ob bereits sämtliche Rechtsbehelfe – auch solche, deren Statthaftigkeit gegebenenfalls zweifelhaft ist – ergriffen wurden oder zumindest noch ergriffen werden können. U.U. kann es geboten sein, diese Rechtsbehelfe neben der Verfassungsbeschwerde zu aktivieren, um sowohl das Risiko einer Zurückweisung wegen Verfristung als auch wegen Nichterfüllung der Anforderungen an die Subsidiarität zu minimieren.
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Hinweis
Sollte die Frist für den – wenn auch zweifelhaften – Rechtsbehelf noch nicht abgelaufen sein, empfiehlt es sich also, ihn und die Verfassungsbeschwerde parallel zu erheben. Dabei wird die Einlegung der Verfassungsbeschwerde mit der Bitte an den Präsidialrat bzw. die Präsidialrätin verbunden, den Übertrag der Verfassungsbeschwerde vom Allgemeinen („AR“) in das Verfahrensregister erst mit der abschließenden Entscheidung des Gerichts oder der sonst zur Entscheidung berufenen Stelle über den (zweifelhaften) Rechtsbehelf durchzuführen („Parken im Allgemeinen Register“).[71]
3. Mandatsaufwand
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Ist die Entscheidung schließlich zugunsten einer Mandatsübernahme/-fortführung gefallen, gilt es zuletzt, sich einige – dogmatische wie tatsächliche und prozessuale – Besonderheiten des Verfahrens vor Augen zu führen.
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Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher und zugleich subsidiärer Rechtsbehelf zum Schutz und zur Durchsetzung der Grundrechte. Ihr ist nicht bestimmt, wahlweise neben andere Rechtsmittel zu treten oder diese zu ersetzen. Die Verfassungsbeschwerde stellt deshalb insbesondere keine Fortsetzung des Vorbringens im fachgerichtlichen Rechtszug dar, nunmehr feierlich „garniert“ mit der Erwähnung einiger Grundgesetzartikel und BVerfGE-Fundstellen.[72] Sie ist daher erst dann zulässig, wenn der Rechtsweg zu den Fachgerichten erschöpft ist und die Grundrechtsverletzung auch auf andere zumutbare Weise nicht hätte beseitigt werden können. Die Verfassungsbeschwerde ist weiter nur dann statthaft, wenn die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts – mithin eine grundsätzlich unrichtige Anschauung der Fachgerichte über Bedeutung und Tragweite von Grundrechten oder willkürliches Entscheiden[73] – geltend gemacht wird.
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Zwar besteht der Hauptaufwand daher im Verfassen der Beschwerdeschrift, die den Besonderheiten des Verfahrens Rechnung trägt: die Nichtsuperrevisionsinstanzbeschwerdeschrift. Damit ist es jedoch noch nicht getan. Zunächst einmal hat der Anwalt neben dieser ohnehin zeitraubenden Aufgabe den normalen Mandatsaufwand zu bewältigen. Des Weiteren muss er sich mit dem Gedanken vertraut machen, unter Umständen mehrere Jahre auf eine abschließende Entscheidung des Gerichts zu warten. Neben den ohnehin geringen Erfolgsaussichten müssen sich Anwalt und Beschwerdeführer hier auf eine zunehmende Verfahrensdauer einstellen, welche maßgeblich auf den erheblichen Arbeitsanfall des Gerichts zurückzuführen ist. In der Zwischenzeit will der Mandant dennoch regelmäßig über den Stand des Verfahrens informiert werden. Außer der – ungewissen – Aussicht auf eine informelle telefonische Information über den Verfahrensstand aus dem „Vorzimmer des Rechts“ durch den zuständigen Wissenschaftlichen Mitarbeiter gibt es dafür keinen Weg.[74]
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Beschleunigungsgrundsatz und Konzentrationsmaxime sind indes wesentliche Bestandteile jedes rechtsstaatlich geordneten Verfahrens. Gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK hat der Beschuldigte ein Recht darauf, dass die gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Tatsächlich sind Verfahrensverzögerungen – auch vor dem BVerfG selbst – nicht erst seit kurzem Gegenstand kritischer Auseinandersetzung.[75] Vor der einschlägigen Gesetzesänderung des Jahres 2011 wurde die Bundesrepublik Deutschland auch vom EGMR deshalb mehrfach und auch in Strafsachen formell gerügt (und der Etat des Gerichts mit den Folgekosten belastet[76]).[77]
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Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011[78] wurde mit der Verzögerungsbeschwerde in den §§ 97a-e BVerfGG eine gegenüber den Änderungen des GVG deutlich engere Sonderregelung geschaffen, die auch für die Verfassungsbeschwerde Geltung beansprucht.[79]
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Hinweis
Die Entscheidung des Gesetzgebers, auch das Verfassungsgericht in den Anwendungsbereich der Rechtsbehelfe bei überlanger Verfahrensdauer einzubeziehen, ist gerade aus Sicht der strafrechtlichen Praxis zu begrüßen. Gerade bei Beschwerden mit strafrechtlichem Hintergrund kann die verzögerliche Verfahrensbehandlung in Karlsruhe für den Beschwerdeführer tatsächlich gravierende Folgen haben. Die physischen und psychischen Belastungen des Strafverfahrens verlängern sich dadurch noch. Hat der Beschwerdeführer keinen (erfolgreichen) Eilantrag gegen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestellt, muss er in Strafhaft oder Unterbringung auf die Entscheidung warten. Rein faktisch kann die Entscheidung bei zwischenzeitlicher Entlassung zu spät kommen. Mit zunehmender Verfahrensdauer wird überdies die Wahrheitssuche im Ausgangsverfahren erschwert und die Gefahr von Beweisverlusten wächst. Der Richter wird bei Zurückverweisung der Sache unter Umständen nicht mehr in der Lage sein, seine Überzeugung noch aus dem Inbegriff der Verhandlung zu schöpfen. Freilich wird sich die konkrete Verfahrensdauer deshalb auch nach Bedeutung und Dringlichkeit der Sache, insbesondere nach den Erfolgsaussichten richten.
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