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Der Rechtsanwalt und Strafverteidiger, der sich mit dem Wunsch konfrontiert sieht, für (s)einen Mandanten Verfassungsbeschwerde einzulegen, hat zahlreiche Hürden zu nehmen. Sein Tätigwerden stellt auch schon vor Annahme des Mandats besondere Anforderungen in fachlicher, menschlicher und auch organisatorischer Hinsicht.[7] Selbst wenn es gelingen sollte, die geschriebenen, teilweise aber auch nur richterrechtlich etablierten Zulässigkeitsvoraussetzungen zu erfüllen, sind die Aussichten auf ein Obsiegen in der Sache jedenfalls statistisch gesehen verzweifelt gering. Der Anwalt muss sich, dem (potentiellen) Mandanten oder dem anfragenden Kollegen möglichst bald und unmissverständlich deutlich vor Augen halten, dass der weitaus größte Teil der Verfassungsbeschwerden in der Sache erfolglos bleibt. Ein mit Gründen versehener Nichtannahmebeschluss, so tragisch sich dessen immer gleicher Schlusssatz („Diese Entscheidung ist unanfechtbar“, vgl. § 93d Abs. 1 S. 2 BVerfGG[8]) für den Mandanten auch auswirken mag, muss insoweit fast schon als Teilerfolg gewertet werden.[9] Denn, so Gerichtspräsident Voßkuhle[10] an die Anwaltschaft gewandt und ohne jede Zweideutigkeit: „Im Zweifel gibt es nichts, nicht einmal eine Begründung“. Diese rechtstatsächlich wenig ermutigende Perspektive darf in Fällen, in denen nach erster gedanklicher Vorprüfung eine Verletzung von Verfassungsrecht im bisherigen strafgerichtlichen Verfahren nicht unter jedem Gesichtspunkt ausgeschlossen erscheint, aber nicht von weiteren Überlegungen abhalten.
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Eine eingehende Sachprüfung ist Teil der Aufgabe des Rechtsanwalts und Strafverteidigers auch und gerade im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Es muss den Individualrechtsschutz auf verfassungsrechtlicher Ebene verwirklichen. Ob man das Recht auf Verteidigerbeistand auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren als Fortwirkung aus der Garantie des fairen (Straf-) Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) oder über das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgt sieht, ist dabei sekundär.[11] Verbürgt wird für den Beschuldigten schon vor den Fachgerichten das Recht auf tatsächliche und wirksame Verteidigung. Diese Garantie gilt ungeachtet der Besonderheiten des Verfahrens auch vor dem Verfassungsgericht. Die Aufgabe des Prozessbevollmächtigten ist es nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG[12], den Mandanten vor verfassungswidriger Beeinträchtigung und staatlicher Machtüberschreitung zu bewahren. Dem entspricht – seit der 2. Auflage des Jahres 2015 – auch der Wortlaut der in These 1 Abs. 2 des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer hervorgehobenen Schutzaufgabe des Strafverteidigers. Er hat den Mandanten „vor Rechtsverlusten zu schützen, vor Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern“[13]. Mit dieser Standortbestimmung stimmt zudem die Regelung in § 1 Abs. 3 a. E. der Berufsordnung der Rechtsanwälte (BORA)[14] wörtlich überein. In dem Senatsurteil zur Verfassungswidrigkeit der Versäumnisurteils-Vorschrift in der früheren Berufsordnung hat das BVerfG[15] hinzugefügt, den Rechtsanwalt treffe „zuvörderst die Pflicht, alles zu tun, was im Rahmen seines Auftrags zugunsten des Mandanten möglich ist“. Er muss der öffentlichen Gewalt gegenüber auch gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit jedes Defizit ausgleichen, das seinen Mandanten – „wenn dieser mangels Kenntnis oder mangels Fähigkeit dazu nicht in der Lage ist“[16] – an der Wahrnehmung seiner Rechte als gleichwertiges und mit gleichen Waffen ausgestattetes Prozesssubjekt hindert.
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Obgleich deshalb die Sachprüfung durch einen Rechtsanwalt besonders sinnvoll ist, existiert eine der Revision in Strafsachen (§ 345 Abs. 2 StPO) vergleichbare Vorschrift im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht. Es herrscht außerhalb der mündlichen Verhandlung vor dem Senat kein Anwaltszwang (vgl. § 22 Abs. 1 BVerfGG: „können“). Die Anforderungen an die Förmlichkeiten der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde müss(t)en daher grundsätzlich so beschaffen sein, dass auch der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer sie erfüllen kann; ihm dürf(t)en nach dem Gesetz gegenüber dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer keine Nachteile erwachsen. Dass ist freilich Theorie.[17] Tatsächlich spricht die Statistik eine ganz andere Sprache. Die Erfolgsquote nicht anwaltlich vertretener Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren lag im langjährigen Mittel regelmäßig unter 0,3 %.[18] Faktisch dürfte die Erfüllung der Anforderungen an das Verfassen einer Beschwerdeschrift in Strafsachen mittlerweile derart erschwert sein, dass der fehlende Anwaltszwang im Verfassungsbeschwerdeverfahren als von der Realität überholte Gesetzesregelung bezeichnet werden muss.[19] Vielleicht wird auch deshalb etwa die Hälfte der Verfassungsbeschwerdeführer anwaltlich vertreten.[20] Dabei handelt es sich – ohne dass dies hier näher ausgeführt werden muss – jedenfalls aus der Sicht des Gerichts um ein wechselseitiges Verhältnis. Gerade weil vor dem BVerfG kein Anwaltszwang herrscht, sind die formellen Anforderungen hoch, um dem Gericht bei der Vielzahl der eingehenden Beschwerden noch eine sachgerechte Prüfung der Substanz einer erfolgsgeeigneten Beschwerdeschrift zu ermöglichen.
Anmerkungen
Gekürzter Vorabdruck in ZIS 2009, 511-518.
Bereits von den im Jahre des Erscheinens der Vorauflage dieses Buchs – 2011 – eingegangenen 2.183 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen der ordentlichen Gerichte betrafen 1.412 Strafsachen. Erst dann folgten – mit weitem Abstand – 771 Zivilsachen, vgl. Stüer DVBl. 2012, 751 (753). Zu praktischen Konsequenzen der Eingangszahlen für das Annahmeverfahren siehe unten Rn. 54.
Schorkopf in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 2011, S. 111, wirft auch gleich noch einige die tatsächliche Situation gut ausleuchtende Schlaglichter: „Haftsachen, bei denen eine überlange Verfahrensdauer gerügt wird; Verurteilungen, die auf der Grundlage überkommener oder neuer Tatbestände ergangen sind; Vollstreckungssachen, in denen Einzelheiten des JVA-Alltags bemängelt werden und die zahllosen Klageerzwingungsverfahren, mit denen Bürgern meistens nach Gehör und Zuspruch für Leid und Kränkungen suchen“.
Niemöller/Schuppert AöR 107 (1982), 389. Der Satz geht zurück auf das Vorwort von Henkel zur 1. Aufl. (1953) seines Lehrbuches zum Strafverfahrensrecht: „Es lässt sich daher […] der Standpunkt vertreten, dass das