c) Einsatz von Videotechnik in der Hauptverhandlung
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Die Ausgestaltung der Videovernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung richtet sich nach § 247a Abs. 1 StPO. Im Interesse von besonders schutzbedürftigen Zeugen kann eine Ausnahme von der Pflicht gemacht werden, in der Hauptverhandlung zu erscheinen und unmittelbar vor den Verfahrensbeteiligten auszusagen. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Bestimmung, dass sich der Zeuge während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhalten darf. Er muss also nicht am Gerichtsort erscheinen, sondern kann in seiner vertrauten Umgebung vernommen werden. Seine Aussage wird dann per Videostandleitung in den Sitzungssaal übertragen. Die Videovernehmung ist nicht auf besondere Gruppen von Zeugen beschränkt. Bezweckt ist vielmehr ein umfassender Zeugenschutz[43]. Nicht nur minderjährige Zeugen oder Verletzte von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sondern alle schutzbedürftigen Zeugen, denen schwerwiegende Nachteile drohen können, sind von der Regelung des § 247a Abs. 1 StPO umfasst.
Die Videosimultanübertragung kommt unter verschiedenen Gesichtspunkten in Betracht. Die Regelung des § 247a Abs. 1 S. 1 Hs. 1 StPO betrifft dabei den Zeugenschutz im engeren Sinne. Hiernach ist Voraussetzung der Videovernehmung, dass dem Zeugen im Fall seiner Vernehmung in Anwesenheit der übrigen Verfahrensbeteiligten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für sein Wohl droht. Dies ist lediglich dann der Fall, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen positiv feststeht, dass es zu massiven Belastungen im konkreten Einzelfall bei einer Vernehmung im Gerichtssaal mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen wird[44]. Die Videovernehmung setzt in dieser Konstellation allerdings nicht mehr voraus, dass die drohenden schwerwiegenden Nachteile für den Zeugen nicht in anderer Weise abgewendet werden können. Die frühe Subsidiaritätsklausel wurde durch das „Opferrechtsreformgesetz“ gestrichen. Eine weitere Einsatzmöglichkeit der Videotechnik kommt gem. § 247a Abs. 1 S. 1 Hs. 2 StPO dann in Betracht, wenn dies wie in § 251 StPO gleichermaßen zur zügigen und praktischen Durchführung des Verfahrens und der Vermeidung von Beweisverlusten angezeigt ist. [45]
d) Vorführung einer Videovernehmung in der Hauptverhandlung
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Die Möglichkeiten einer technisch erleichterten Vernehmung finden ihre Ergänzung in den Möglichkeiten der Verwertung der Videoaufzeichnung in der Hauptverhandlung. Hier sind wiederum wesentliche strafprozessuale Grundsätze – namentlich der Mündlichkeits- sowie Unmittelbarkeitsgrundsatz – zu beachten. Die Vorschrift des § 255a StPO bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Videovernehmungen in der Hauptverhandlung vorgeführt werden dürfen. Nach § 255a Abs. 1 StPO ist die Vorführung von Videoaufzeichnungen grundsätzlich möglich, wenn die Voraussetzungen für die Verlesungsmöglichkeit von Vernehmungsniederschriften vorliegen. Erforderlich ist daher, dass sich entweder die Prozessbeteiligten entsprechend § 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 StPO damit einverstanden erklären oder der Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung ein Hindernis im Sinne des § 251 Abs. 1 Nr. 2,3 Abs. 2 Nr. 1, 2 StPO entgegensteht. Für kindliche Verletztenzeugen gelten die in § 255a Abs. 2 StPO angeführten Sonderregelungen. Hiernach ist die Ersetzung der Vernehmung eines Zeugen unter 18 Jahren und desjenigen Verletztenzeugen, der zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war, durch Vorführung der Videoaufzeichnung bereits dann zulässig, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken. Sinn und Zweck ist der Schutz des Zeugen, dem eine erneute Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart werden soll. Der Anwendungsbereich ist aber auf Verfahren wegen bestimmter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen das Leben, wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit beschränkt. In streitigen Fällen bleibt allerdings gem. § 255a Abs. 2 S. 3 StPO eine ergänzende Vernehmung des Zeugen weiterhin möglich.
e) Praktische und aussagepsychologische Aspekte des Einsatzes von Videotechnik
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Die technische Durchführung der Videovernehmung ist im Gesetz nicht geregelt. Zu den einzuhaltenden Mindeststandards sollte aber gehören, dass alles aufgezeichnet wird, was auch aus der Aussage des Zeugen protokolliert wird. Auch Vernehmungsgespräche, die der Vorbereitung einer Frage dienen, müssen aufgezeichnet werden. Darüber hinaus muss die Aufzeichnung im bestmöglichen Maße dem Verdacht von Manipulationen entgegenwirken. Hierzu gehört, dass neben der Einblendung von Datum und Echtzeituhr, um Unterbrechungen zu dokumentieren, auch das Verhalten des Zeugen, der Verhörsperson sowie anderer im Vernehmungszimmer befindlichen Personen festgehalten wird.[46]
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Die exakte Dokumentation einer möglichst tatnahen Aussage per Video stellt für die Beurteilung der Aussage und somit für die Wahrheitsfindung häufig einen zentralen Baustein dar. Dies gilt auch für das subjektive Erleben von Zeugen, die Erinnerungsverlust und damit eine reduzierte Glaubhaftigkeit ihrer Aussage befürchten. Gerade wegen der genauen Dokumentation ist es notwendig, dass die Vernehmungspersonen ausreichend qualifiziert sind, sodass die Beweiskraft einer Aussage nicht schon aufgrund einer schlechten Befragungstechnik geschwächt wird. Zudem kann die Verwertung einer Videoaufzeichnung bestimmten Zeugen im Idealfall das oftmals belastende neuerliche Auftreten in der Hauptverhandlung ersparen. Für den Opferzeugen bedeutet es eine deutliche Entlastung, wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass die aufgenommene Aussage in der Hauptverhandlung genutzt wird und ihm allenfalls noch eine ergänzende Befragung bevorsteht. Insbesondere bei Kindern können durch authentische Konservierung und Verwertung der Erstaussage können erheblich Belastungen und Stressfaktoren verringert werden.[47] Solche Verfahrensgestaltung können seitens des anwaltlichen Vertreters im Rahmen seiner Beratung allerdings nur als eine Möglichkeit in Aussicht gestellt werden. Der Zeuge muss sich daher innerlich gleichwohl auf eine neuerliche vollständige Aussage vor Gericht einstellen.
Allerdings ist auch zu beachten, dass den Vorzügen der Videovernehmung aus aussagepsychologischer Sicht mitunter auch gewisse Nachteile entgegenstehen können.[48] Nicht unproblematisch ist beispielsweise, ob und wie sich das Wissen um die Aufzeichnung – und die damit verbundene Aussicht auf Betrachtung des Videos durch eine Vielzahl von Verfahrensbeteiligten – auf das Verhalten des Zeugen während der Vernehmung und auf den Inhalt seiner Aussage auswirkt.[49] Mitunter wird auch – aufgrund von Erfahrungen aus Verfahren in den USA und England – darauf hingewiesen, dass der Eindruck, den ein im Gerichtssaal auftretender Zeuge hinterlasse, stärker sei, als bei der Videoaufnahme oder –übertragung.[50]
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In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern sollte nach Möglichkeit versucht werden, das Strafverfahren mit einer einzigen Vernehmung des Kindes zu einem Abschluss zu bringen. Dies kann dann angezeigt sein, wenn die Straftaten im familiären Umfeld stattgefunden haben, dem kindlichen Opferzeugen deshalb ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht und es aufgrund seiner psychischen Situation durch die anstehenden Befragungen und seine Ängste um den Erhalt der Familie in der späteren Hauptverhandlung verwirrt sein, seelischen Schaden nehmen oder seine Aussage verweigern könnte.[51] Wird diese Strategie verfolgt, kommt der Erstaussage noch größere und besondere Bedeutung zu, als dies aus aussagepsychologischer Sicht ohnehin der Fall ist.[52] Bereits zum Zeitpunkt der ersten ausführlichen polizeilichen Vernehmung können dann die späteren Verfahrensbeteiligten unter der Leitung des Ermittlungsrichters die Vernehmung aus einem separaten Raum mittels „Venezianischer Scheiben“ oder eben Videotechnik verfolgen. Da bei Kindern die Gefahr besonders groß ist, dass sie durch Befragungen ihres Umfeldes beeinflusst werden, ist es auch wichtig, die Entstehungsgeschichte der Aussage zu dokumentieren.[53]
Hinweis