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Der Schwerpunkt der EmmingerVO lag auf einer grundlegend neuen Organisation der erstinstanzlichen Zuständigkeit,[39] was zugleich wesentlich den Rechtsmittelzug und die anzuwendenden strafverfahrensrechtlichen Vorschriften beeinflusste. Die herkömmlichen Schwurgerichte, die auf einer Trennung von Richterbank und Geschworenen beruhten, wurden beseitigt und nur dem Namen nach beibehalten. Die erstinstanzliche Zuständigkeit wurde fast vollständig auf das Amtsgericht verlagert. Der Amtsrichter als Einzelrichter übernahm im Wesentlichen die Zuständigkeit des Schöffengerichts,[40] welches im Gegenzug nun für den überwiegenden Teil der Strafsachen, die vormals beim Landgericht angeklagt worden waren, zuständig wurde.[41] Das neue Schwurgericht, das mit drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen besetzt war, war im Wesentlichen nur für die eigentlichen Kapitalverbrechen und Fälle des Meineides zuständig.[42] Dabei entfiel die Trennung der Entscheidung über Schuld- und Straffrage, über beides entschieden die Berufsrichter und Geschworenen gemeinschaftlich. Die Strafkammern der Landgerichte, bei denen nun in der Hauptverhandlung stets Schöffen mitwirkten, blieben nur noch für Berufungen und Beschwerden zuständig. Die kleine Strafkammer als Berufungskammer gegen Urteile des Einzelrichters war mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen besetzt, die große Strafkammer als Berufungskammer gegen Urteile des Schöffengerichts mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Die Berufung stand als Rechtsmittel allgemein zur Verfügung, außer bei einer erstinstanzlichen Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts oder des Reichsgerichts, in Schwurgerichtssachen oder bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe bei Übertretungen oder bestimmten Privatklagedelikten. In den letztgenannten Fällen war die Ersatzrevision statthaft, wobei im Wesentlichen nur die fehlerhafte Anwendung des materiellen Rechts gerügt werden konnte. Weiterhin wurde die Sprungrevision als Alternative zur Berufung eingeführt.
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Auch der Revisionszug wurde neu gestaltet.[43] Zuständig für Revisionen gegen Berufungsurteile der kleinen Strafkammern und die meisten Urteile der großen Strafkammern waren ausschließlich die Oberlandesgerichte. Das Reichsgericht war nur noch für Revisionen gegen Urteile der Schwurgerichte und gegen Berufungsurteile der großen Strafkammern, bei denen erstinstanzlich ausnahmsweise zwei Berufsrichter mitgewirkt hatten, zuständig, soweit die Revision nicht lediglich eine Verletzung von Landesrecht rügte. Angesichts der Partikularisierung der Revisionszuständigkeiten befürchteten viele eine Zersplitterung der Rechtsauslegung, zumal der Zuständigkeitszuwachs des Amtsgerichts die Oberlandesgerichte zu den neuen „Zentren der Revisionsgerichtsbarkeit“ machte und dadurch die Zuständigkeit des Reichsgerichts stark einschränkte.[44] Bei der Regelung der Revisionszuständigkeiten scheint der Gesetzgeber auch übersehen zu haben, dass nur das Reichsgericht, nicht aber die Oberlandesgerichte, nach dem Entlastungsgesetz vom 8. Juli 1922 die Befugnis hatte, Revisionen zur Vermeidung einer Hauptverhandlung durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zu verwerfen. Der Entlastungseffekt auf Ebene des Reichsgerichts wurde damit durch ungleich höhere Belastungen der Oberlandesgerichte konterkariert.[45]
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Eine weitere wichtige Vereinfachungsmaßnahme betraf nicht die Organisation der Strafgerichte, sondern die weitreichenden Durchbrechungen des Legalitätsprinzips (§§ 23, 24 der EmmingerVO), die bereits zuvor contra legem Teil der Verfahrenspraxis waren[46] und die im Wesentlichen bis heute in §§ 153, 154 StPO überdauert haben. Übertretungen mussten nicht mehr verfolgt werden, „wenn die Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tat unbedeutend sind“, es sei denn, es bestand ein „öffentliches Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung“. Bei Vergehen konnte die Staatsanwaltschaft unter den gleichen Voraussetzungen mit Zustimmung des Amtsrichters von der Anklageerhebung absehen, wobei es auf das „öffentliche Interesse“ nicht ankam.[47] Das Gericht konnte mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft das Verfahren auch nach Anklageerhebung noch einstellen. Der Verfolgungszwang galt nur bei militärischen Vergehen uneingeschränkt fort. Auch bei unwesentlichen Straftaten, die neben einer schwereren Straftat nicht ins Gewicht fielen, konnte die Staatsanwaltschaft von der Anklageerhebung absehen. Auf die Gefahren dieser Opportunitätserledigungen für eine objektive und gerechte Strafverfahrenspraxis wurde schon 1924 hingewiesen,[48] auch wenn sich die Auffassung durchsetzte, in Strafsachen mit nur geringem Gewicht könne man auf „das vernünftige Befinden des pflichtbewußten Beamten“ der Staatsanwaltschaft vertrauen.[49] Aus Sicht des Beschuldigten war misslich, dass die Verfahrenseinstellung auch nach Anklageerhebung nicht seiner Zustimmung bedurfte und der Einstellungsbeschluss nicht zu einem Strafklageverbrauch führte.[50]
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Der schnelleren „Erledigung“ kleinerer Kriminalität diente auch die Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens, das nun für alle Vergehen zulässig war, wobei Geldstrafe in unbeschränkter Höhe und bis zu drei Monate Freiheitsstrafe verhängt werden konnten.[51] Die Zuständigkeitskonzentration bei den Amtsgerichten bewirkte mittelbar auch eine Ausweitung des Schnellverfahrens gem. § 212 RStPO, das nunmehr in allen Verfahren möglich war, die nicht erstinstanzlich vor dem Schwurgericht, dem Oberlandesgericht oder dem Reichsgericht verhandelt wurden, wenn sich der Beschuldigte freiwillig stellte oder infolge einer vorläufigen Festnahme dem Gericht vorgeführt wurde. Das Schnellverfahren wurde damit in fast allen Strafsachen möglich.[52]
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Durch die Überbetonung der zügigen Erledigung von Strafsachen steigerte die EmmingerVO die Bedeutung der Staatsanwaltschaft und begründete zugleich nicht unwesentliche Nachteile für die Rechtsposition des Beschuldigten. Durch die Möglichkeit, auf die Zuständigkeit und Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts Einfluss zu nehmen, konnte die Staatsanwaltschaft zugleich den Rechtsmittelzug bestimmen.[53] Sie hatte es auch maßgeblich in der Hand, ob eine richterliche Voruntersuchung stattfand, wodurch – ebenso wie durch die Erweiterung der Opportunitätseinstellungen – ihr Einfluss im Vorverfahren stieg.[54] Weiterhin beeinflussten die Zuständigkeitsänderungen maßgeblich das Beweisantragsrecht. Die eigentlich als Ausnahmevorschrift gedachte Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme durch das Gericht, „ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein“ (§ 245 Abs. 2 RStPO in Fassung der Neuverkündung vom 22. März 1924, vorher § 244 Abs. 2 RStPO), galt durch die Konzentration der ersten Instanz beim Amtsgericht nun in fast allen erstinstanzlichen Verfahren.[55] Die freiere Hand des Gerichts hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme mag zuvor bei der Verhandlung von weniger bedeutsamen Strafsachen noch als Ausdruck eines strafprozessualen Bagatellprinzips gerechtfertigt gewesen sein.[56] Nun hatte der Beschuldigte aber auch bei schweren Tatvorwürfen keine Möglichkeit mehr, in der ersten Instanz die Beweisaufnahme durch die Pflicht zur Berücksichtigung präsenter Beweismittel in seinem Sinne zu beeinflussen. Eine gewisse Kompensation bestand darin, dass in der Berufungsinstanz die freie Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme nur bei Übertretungen galt.
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Ob die Rechnung der Reichsregierung, durch den schnelleren Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens Kosten einzusparen, tatsächlich aufging, bleibt zweifelhaft.[57] Die „Züchtung unvermeidbarer Berufungen“[58] durch die fehlende Gründlichkeit in der ersten Instanz dürfte vielmehr den gegenteiligen Effekt gehabt haben.[59] Jedenfalls hielten die Klagen über die sog. Riesen- oder Monstreprozesse, die durch die weitgehenden Berufungsmöglichkeiten noch verlängert wurden, in den folgenden Jahren an,[60] so dass die AusnahmeVO vom 14. Juni 1932 die erstinstanzliche Zuständigkeit der großen Strafkammern wieder einführte. Festzuhalten ist, dass die Möglichkeit der Berufung nur ein ungenügender Ersatz für die schwache Rechtsstellung des Beschuldigten im erstinstanzlichen Verfahren war.[61]
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Die Kritik gegen Inhalt und Zustandekommen der EmmingerVO beeindruckte das Reichsgericht jedoch nicht. Der 2. Strafsenat entschied am 24. März 1924, dass die EmmingerVO und die daran anschließende Neubekanntmachung der RStPO rechtsgültig waren. Die Reichsregierung könne nach dem Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 auch Recht setzen, soweit sie es für erforderlich und dringend erachte. Diese Ermessensentscheidung sei „jeder Nachprüfung der Gerichte entzogen.“