Von der vorbezeichneten Regel formuliert § 276 Abs. 2 FamFG die Ausnahme, dass nämlich eine Verfahrenspflegerbestellung unterbleiben könne, wenn, so wortwörtlich, „ein Interesse des Betroffenen (. . .) offensichtlich nicht besteht.“ Diese Ausnahmeregelung ist verfassungsrechtlich mit Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG, dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, außerordentlich bedenklich. Schlimmstenfalls eröffnet diese Vorschrift dem Betreuungsgericht die Möglichkeit, ein Betreuungsverfahren ohne jegliche Kontrolle von außen durchzuführen und damit den Betroffenen zu einem bloßen Verfahrensobjekt zu machen.
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Die Ausnahmeregel gilt nicht für Verfahrenspflegerbestellungen nach anderen Bestimmungen als § 276 FamFG, z.B. für Sterilisationsverfahren (§ 297 FamFG), für lebensbeendende Maßnahmen nach § 1904 BGB (§ 298 FamFG), für ärztliche Zwangsmaßnahmen (§ 312 S. 3 FamFG) und für Unterbringungssachen (§ 318 FamFG).
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Beispiel
Richter Rainer D., der seit Jahren eine Versetzung zum Verwaltungsgericht anstrebt, erhält von dem Sozialdienst des Krankenhauses die Anregung, für den im Wachkoma befindlichen Patienten Ralf G. eine allumfassende Betreuung einzuleiten. Richter D. will die Akte schnell vom Tisch haben und ordnet sofort eine dementsprechende Betreuung an. Er ist der Meinung, eine persönliche Anhörung des Herrn G., der seinen Willen nicht kundtun könne, sei mit Hinblick auf § 276 Abs. 2 FamFG entbehrlich; die Beteiligung von Angehörigen nach § 274 Abs. 4 FamFG nicht obligat und im Übrigen ein Sachverständigengutachten in Ansehung des auf der Hand liegenden Krankheitsbildes entbehrlich.
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Die Regelung des § 276 Abs. 2 FamFG ist demgemäß verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass niemals von einem Desinteresse des Betroffenen an einer Verfahrenspflegerbestellung auszugehen ist. Für den Fall, dass eine Betreuung mit allen Aufgabenkreisen angeordnet wird, verliert der Betroffene sein aktives und passives Wahlrecht.[15] Es wird unterstellt, dass dies nie im Interesse der Betroffenen ist.
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Allein aus der Perspektive des Betroffenen und nicht aus der des Betreuers oder des Gerichtes ist zu beurteilen, ob ein Verfahrenspfleger i.S.d. § 276 Abs. 1 FamFG zu bestellen ist. Es lässt sich somit der Grundsatz formulieren, dass, je weniger der Betroffene in der Lage ist, seine Interessen selbst wahrzunehmen, je eindeutiger erkennbar ist, dass die geplanten Betreuungsmaßnahmen gegen seinen natürlichen Willen erfolgen und je schwerer und nachhaltiger der beabsichtigte Eingriff in die Rechte des Betroffenen ist, umso dringender die Bestellung eines Pflegers für das Verfahren erforderlich ist. Insbesondere regelmäßig indiziert ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers bereits dann, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Aufgabenkreis ist, der das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Heilbehandlung oder die Wohnungsangelegenheiten umfasst. Es handelt sich hierbei um die in § 293 Abs. 2 S. 2 FamFG genannten „wichtigen Entscheidungen“ des Betreuungsgerichtes.[16]
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Daher stellt die Neuregelung des § 276 Abs. 2 FamFG, die inhaltlich zum 1.1.1999 durch das 1. BtÄndG erfolgte, einen echten Rückschritt im Vergleich zu dem vorherigen Rechtszustand dar, in dem in all diesen Fällen eine Verfahrenspflegerbestellung zwingend war.
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Dem Betroffenen ist zu seinem Schutz möglichst frühzeitig ein Verfahrenspfleger zu bestellen. Der Bestellungsakt ist formfrei und wird dem Verfahrenspfleger in der Regel mit normaler Post zugestellt.[17] Im Übrigen gilt § 15 Abs. 3 FamFG. Die (fern-)mündliche Bekanntmachung und ein Vermerk in der Akte genügen. Die Bestellung kann auch konkludent durch Ladung oder Anhörung – z.B. des erstinstanzlich bestellten Verfahrenspfleger es zu einem Anhörungstermin in der Beschwerdeinstanz – erfolgen.[18] Das Gericht muss ferner wegen der zu zahlenden Vergütung aussprechen, ob die Verfahrenspflegschaft ehrenamtlich oder berufsmäßig geführt wird (§ 277 Abs. 2 FamFG).
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Wird von einer Verfahrenspflegerbestellung Abstand genommen, ist dieser Schritt individuell und nicht nur formularmäßig zu begründen, § 276 Abs. 2 S. 2 FamFG, andernfalls verkommt dieses wichtige Verfahrensrecht des Betroffenen zur bloßen Makulatur. Eine ermessensfehlerhafte Nichtbestellung begründet die weitere Beschwerde.
Die Auswahl des Verfahrenspflegers steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.[19] Vor der Bestellung eines Verfahrenspflegers ist dem Betroffenen rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, zu gewähren. Wünsche des Betroffenen zur Person des Verfahrenspflegers – die nicht bindend sind – sollten nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Im Rahmen der (ausreichenden) schriftlichen Anhörung ist der Betroffene auf die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, hinzuweisen. Nicht geeignet zur Wahrnehmung der Aufgaben eines Verfahrenspflegers sind in jedem Fall – entgegen einer langläufigen gerichtlichen Praxis – wegen einer Vermengung der Rollen die Betreuungsbehörden bzw. deren Mitarbeiter.
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Die abstrakte Gefahr einer Interessenkollision steht einer Verfahrenspflegerbestellung entgegen.[20] Das Gesetz sieht in § 276 Abs. 4 FamFG die Aufhebung einer Verfahrenspflegerbestellung vor, wenn der Betroffene von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten wird. Daraus ist der Schluss gezogen worden, eine Eignung zur Führung von Verfahrenspflegschaften sei nur bei Vorliegen besonderer Rechtskunde gegeben.[21] Demgegenüber verweist § 276 Abs. 3 FamFG hinsichtlich der von dem Gericht vorzunehmenden Auswahl des Verfahrenspflegers auf § 1897 Abs. 6 S. 1 BGB und betont damit den Vorrang des Ehrenamtes.
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Ob es einer beruflichen Qualifikation des Verfahrenspflegers bedarf, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Grundsätzlich ist eine juristische Berufsqualifikation jedoch nicht erforderlich.[22] Nach Sinn und Zweck des Amtes – dem Betroffenen konstruktiv rechtliches Gehör zu gewähren – ist jedoch die gerichtliche Beauftragung einer hierzu unfähigen Person keine ordnungsgemäße Rechtsausübung.[23] Das Amt eines Verfahrenspflegers erfordert neben vertieften juristischen Kenntnissen des materiellen Rechts und Verfahrensrechtes auch medizinisches Wissen und die Fähigkeit, medizinische Sachverständigengutachten zu verstehen und kritisch zu würdigen.[24] Zudem ist Menschenkenntnis erforderlich, um einen Betreuungssachverhalt zutreffend bewerten zu können. Mit Hinblick auf die vorstehend genannten erforderlichen Eignungsvoraussetzungen ist von daher in jedem Einzelfall kritisch zu prüfen, ob dieser zur Übertragung an einen ehrenamtlichen Verfahrenspfleger taugt, § 276 Abs. 3 FamFG[25].
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Zuständig für die Bestellung eines Verfahrenspflegers ist das über das entsprechende Betreuungsverfahren zur Entscheidung berufene Gericht. Funktionell zuständig ist der Richter dementsprechend bei Verfahren, die dem Richtervorbehalt unterliegen, § 15 RPflG. Prinzipiell trifft der Funktionsträger, dessen sachliche Zuständigkeit in dem Hauptsacheverfahren besteht, auch die verfahrensrechtlichen Nebenentscheidungen.[26]
242
Beauftragt der Betroffene selbst im Laufe des Verfahrens einen Rechtsanwalt mit seiner Interessenwahrnehmung, ist eine bereits erfolgte Verfahrenspflegerbestellung aufzuheben bzw. kann diese – falls noch nicht geschehen – unterbleiben, § 276 Abs. 4 FamFG. Stellt der Rechtsanwalt des Betroffenen einen Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe (§§ 76 ff. FamFG), ist bei Vorliegen folgender Voraussetzungen eine Beiordnung vorzunehmen:
– | Mittellosigkeit des Betroffenen; |
– | Drohen schwerwiegender Eingriffe in die Lebensstellung des Betroffenen (umfassende Betreuung, Wohnungsauflösung, Einwilligungsvorbehalt); |
– | Unvermögen des Betroffenen, seine Rechte selbst in der gebotenen Form wahrzunehmen.[27] |