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Die Umsetzungsgesetze völkerrechtlicher Verträge haben jedoch unmittelbaren Vorrang vor bereits bestehenden Gesetzen in Anwendung des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori. Jeder Richter ist daher zuständig, die Aufhebung des früheren Gesetzes selbst festzustellen, ohne dass die Corte costituzionale zur Feststellung der inzwischen eingetretenen Verfassungswidrigkeit des Gesetzes eingeschaltet werden müsste. Der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. bezweckt gerade eine Stärkung der Beachtung internationaler Verpflichtungen in der italienischen Rechtsordnung, so dass es widersprüchlich wäre, wenn der ordentliche Richter, der in der Vergangenheit die Aufhebung früherer Gesetze durch spätere Umsetzungsgesetze feststellen konnte, heute die Aufhebung nicht mehr feststellen könnte, nicht einmal, wenn der Normenkonflikt für ihn evident ist. Wenn jedoch der Konflikt zwischen einem Gesetz und dem Umsetzungsgesetz dem ordentlichen Richter nicht klar und eindeutig scheint, kann er sich heute – hier gilt das quid pluris im Vergleich zur früheren Regelung – an die Corte costituzionale wenden, um die Aufhebung des früheren Gesetzes zu erwirken.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien › II. Die Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union
a) Die Verfassunggebung
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Die Frage der Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften als solche konnte schon aus zeitlichen Gründen kein Thema der Beratungen in der Verfassunggebenden Versammlung (Assemblea costituente) von 1946/47 sein. Allerdings war die Idee einer Kooperation der europäischen Staaten bereits damals Gegenstand der politischen Debatte und wurde auch in der Verfassunggebenden Versammlung angesprochen. Einige kleinere in der Verfassunggebenden Versammlung vertretene politische Parteien – die republikanische Partei (mitte-links) und die Aktionspartei (links) – hatten in ihren Programmen sogar die Bildung eines „europäischen Bundes“ vorgesehen.[15] Darüber hinaus fand in den Programmen aller in der Verfassunggebenden Versammlung vertretenen Parteien die Idee einer Öffnung des Staates zugunsten einer internationalen Zusammenarbeit und einer friedensorientierten Außenpolitik auch um den Preis möglicher Souveranitätsbeschränkungen Ausdruck, als Reaktion auf den engstirnigen Nationalismus und die aggressive Außenpolitik der faschistischen Zeit sowie als definitiver Abschied von dieser Politik.[16] Eine entsprechende allgemeine politische Orientierung hat vor allem in den schon erwähnten Art. 10 Abs. 1 und 11 Cost. Niederschlag gefunden. Art. 11 ist in die Verfassung vor allem aufgenommen worden – wie Wortlaut und Entstehungsgeschichte deutlich machen –, um den Beitritt Italiens zu den zukünftigen Vereinten Nationen zu ermöglichen. Die allgemeine Formulierung dieser Vorschrift eröffnete jedoch auch weitere Entwicklungsmöglichkeiten, über die sich der Verfassunggeber völlig im Klaren war. Das führte dazu, dass zwei Änderungsanträge abgewiesen wurden, die eine ausdrückliche Bezugnahme in Art. 11 auf die „europäischen internationalen Organisationen“ vorsahen. Die Ablehnung der Änderungsanträge wurde damit begründet, dass die „europäischen Organisationen“ in dem Oberbegriff „internationale Organisationen“ schon enthalten seien, so dass ihre ausdrückliche Erwähnung überflüssig sei.[17] Aus den vorhergehenden Bemerkungen kann man schließen, dass die europäische Frage zwar nicht im Mittelpunkt der Beratungen der Verfassunggebenden Versammlung über Art. 11 Cost. stand, dass aber trotzdem die noch ganz allgemeine Idee einer Vereinigung der europäischen Staaten und Völker im Hintergrund durchaus präsent war, zumal der von der Verfassunggebenden Versammlung gewählte Text des Art. 11 flexibel genug war, um die europäische Tür zu öffnen, und in nuce die Grundlage für eine weitere Öffnung der italienischen Rechtsordnung für die europäische Integration enthielt.
b) Die weitere politische Entwicklung
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Italien gehört zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaften. Es hat den Vertrag von Paris zur Gründung der EGKS und die Verträge von Rom zur Gründung der EWG und Euratom umgehend ratifiziert, was u.a. auf die Initiative des großen Christdemokraten Alcide de Gasperi und die von ihm geführten Zentrumsregierungen zwischen 1948 und 1953 zurückzuführen ist. Wirtschaftliche und politische Gründe waren wesentlich für die Teilnahme Italiens am Prozess der europäischen Integration. Aus politischer Sicht war es das Anliegen Italiens, durch die Schaffung einer neuen Solidarität unter den Staaten inter-europäische Konflikte zu vermeiden und Italien damit nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu ermöglichen, seine Rolle im europäischen Konzert wieder zu finden.[18] Dies erklärt z.B. die Unterstützung Italiens für das letztlich gescheiterte Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), d.h. für ein nicht vorrangig „wirtschaftliches“, sondern auch „politisches“ Europa, und den Vorschlag Italiens, der Niederschlag in Art. 38 des EVG-Vertrages von Mai 1952 gefunden hat, eine echte politische Gemeinschaft zu gründen (die Europäische Politische Gemeinschaft), Vorläufer eines europäischen Bundes. Aus wirtschaftlicher Sicht stellte für Italien die Schaffung eines gemeinsamen Marktes eine beispiellose Chance für die Entwicklung und Modernisierung der eigenen Wirtschaft dar, die durch die Einführung des Prinzips der Freizügigkeit im EWG-Vertrag zugleich ein Ventil für die Abwanderung aus Italien schuf.[19] Seit 1950 ist die Beteiligung Italiens am Prozess der Integration zum Eckpfeiler der italienischen Außenpolitik geworden und wurde nie von Regierung oder Parlament in Zweifel gezogen, auch nicht nach dem Zusammenbruch einiger, darunter der wichtigsten, Nachkriegsparteien zu Beginn der 1990er Jahre. Damit lässt sich auch aus Sicht der internen politischen Debatte die unspektakuläre Vornahme der verschiedenen Schritte der Integration im Laufe der 1980er Jahre (Einheitliche Europäische Akte von 1986), der 1990er Jahre (Vertrag von Maastricht von 1992, Vertrag von Amsterdam von 1997) und ab dem Jahre 2000 (Vertrag von Nizza, 2001) erklären. Diese Fortschritte im Prozess der Integration, einschließlich des Vertrags von Maastricht und des Vertrags über die Europäische Verfassung, sind von der Mehrheit der „politischen Klasse“ und der öffentlichen Meinung als weitere Schritte des in Paris und Rom eingeleiteten „unumkehrbaren Prozesses der Integration“ akzeptiert worden. In diesen Zusammenhang passt es, dass Italien der Ratifikation des Verfassungsvertrages mit Gesetz Nr. 57 vom 7.4.2005 bereits zugestimmt hat.
2. Die verfassungsrechtliche Grundlage der Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union
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Im Kontext der Ratifizierung der Verträge von Paris und Rom wurde von einigen Autoren und in der politischen Debatte die These vertreten, dass ein verfassungsänderndes Gesetz zur Ratifizierung bzw. zur Umsetzung dieser Verträge erforderlich sei, weil sie in der Tat eine Änderung der Verfassung darstellten, indem sie auf die europäischen Gemeinschaften Hoheitsrechte übertrugen, die die Verfassung ursprünglich staatlichen Organen zugewiesen hatte. Trotzdem folgte das Parlament der entgegengesetzten Auffassung, nämlich dass eine Ratifizierung und Umsetzung durch einfaches Gesetz ausreiche, weil die Übertragung von Hoheitsrechten schon in Art. 11 Cost. ihre Rechtfertigung finde. Diese Auffassung wurde auch von der Corte costituzionale in ihrem ersten „europäischen“ Urteil Costa gegen ENEL, Nr. 14 vom 7.3.1964, bestätigt. In dieser Entscheidung hat das Verfassungsgericht Art. 11 Cost. als „norma permissiva“ (Öffnungsklausel)