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Im Urteil Granital Nr. 170 vom 8.6.1984 hat die Corte costituzionale ihre Auffassung schließlich im Ergebnis – nicht aber in den theoretischen Grundlagen – an die des EuGH angepasst und damit die noch andauernde dritte Phase ihrer Judikatur zum Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht eingeleitet. Sie hat darin zwar noch an einer dualistischen Anschauung festgehalten, aber gleichzeitig, von einigen Ausnahmefällen abgesehen (siehe unten, Rn. 31ff.), darauf verzichtet, die Verfassungswidrigkeit einfacher, dem Europarecht widersprechender Gesetze zu erklären. Im Urteil Granital, in dem es um einen Konflikt zwischen einem nationalen Gesetz und einer Gemeinschaftsverordnung ging, stellte sie fest, dass in dem Fall, in dem eine rechtmäßige Verordnung (d.h. eine unmittelbar anwendbare, der im Vertrag geregelten Kompetenzverteilung zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht entsprechende Gemeinschaftsnorm) eine bestimmte Materie regelt, das nationale Recht zurücktritt, und der Widerspruch zu einer vorhergehenden oder nachfolgenden nationalen Norm durch Nichtanwendung der nationalen und Anwendung der Gemeinschaftsnorm direkt durch das streitentscheidende Gericht gelöst werden muss, ohne dass es erforderlich wäre, die Corte costituzionale zur Feststellung der Nichtigkeit des nationalen Gesetzes einzuschalten. Die Überprüfung eines Umsetzungsaktes durch das Verfassungsgericht am Maßstab der unionsrechtlichen Vorgaben ist damit in aller Regel unzulässig.
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Auch andere wichtige Äußerungen liegen auf der Linie der Leitentscheidung Granital und belegen, wie das Verfassungsgericht seine Judikatur immer mehr der Judikatur des EuGH angepasst hat. So hat es z.B. die Nichtanwendungspflicht der nationalen Normen nicht auf Gerichte beschränkt, sondern mit Urteil Nr. 389 vom 11.7.1989 auch auf die öffentliche Verwaltung erstreckt und seine Judikatur damit an das Urteil des EuGH vom 22.6.1989 im Fall Fratelli Costanzo SpA gegen Stadt Mailand angepasst.[29]
aa) Die Frage der unmittelbaren Geltung der europarechtlichen Normen in der nationalen Rechtsordnung
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Die Corte costituzionale hat darüber hinaus ihre Judikatur an das für die europäische Integration grundlegende Prinzip der unmittelbaren Geltung der europarechtlichen Normen angepasst. Die unmittelbare Geltung der Normen des EWG-Vertrags war vom EuGH seit dem Urteil Van Gend & Loos vom 5.2.1963 unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt worden.[30] Das Verfassungsgericht hat dann in dem schon erwähnten Urteil Nr. 389 von 1989 die unmittelbare Geltung der Art. 52 und 59 des EWG-Vertrags – gemäß der Auslegung des EuGH in der Entscheidung Kommission gegen Italien vom 14.1.1988[31] – bestätigt.
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Die vertikale, d.h. im Verhältnis zwischen Staat und Bürger bestehende unmittelbare Geltung von nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien wurde vom Verfassungsgericht mit den Urteilen Nr. 64 vom 2.2.1990 (Entscheidung über die Zulassung des Volksentscheids über Schädlingsbekämpfungsmittel) und Giampaoli Nr. 168 vom 18.4.1991 anerkannt. Damit hat die Corte costituzionale auch insofern die seit dem Urteil van Duyn vom 4.12.1974[32] ständige Rechtsprechung des EuGH übernommen. Den im vertikalen Verhältnis unmittelbar geltenden Richtlinien wird demnach die gleiche aktive bzw. passive Wirkungskraft wie Verordnungen zuerkannt, mit der Konsequenz der Nichtanwendung entgegenstehender nationaler Normen durch alle nationalen Behörden.
30
Die Corte costituzionale hat darüber hinaus die unmittelbare Geltung der Urteile des EuGH anerkannt. Mit Entscheidung SpA BECA Nr. 113 vom 23.4.1985 hat sie festgestellt, dass die Urteile, die vom EuGH nach Art. 177 des EWG-Vertrags (heutiger Art. 234 EG) im Wege der Vorabentscheidung zur Auslegung der normativen Akte der Gemeinschaft erlassen werden, unmittelbar gelten.[33] Mit dem schon zitierten Urteil Nr. 389 aus dem Jahr 1989 hat sie dann die Tragweite dieser ratio decidendi ausgedehnt und allen Urteilen des EuGH unmittelbare Geltung zuerkannt, einschließlich derer, die – wie der Ausgangsfall dieser Entscheidung – Klagen wegen Verletzung von Art. 169 EWG-Vertrag (jetzt Art. 226 EG) betreffen.
bb) Ausnahmefälle, in denen die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht weiterhin zulässig ist
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Auf der Grundlage dieser Entwicklung ist die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit durch die Corte costituzionale nur in folgenden Ausnahmefällen weiterhin zulässig:
(1) Wenn die europarechtliche Norm nicht direkt anwendbar ist bzw. keine unmittelbare Geltung hat, unterliegt die nationale Norm – da sie nicht Gegenstand der Nichtanwendung durch den ordentlichen Richter oder die Verwaltung sein kann – der Verfassungswidrigkeitserklärung durch das Verfassungsgericht wegen mittelbarer Verletzung von Art. 11 Cost.[34]
(2) Wenn die nationale Norm darauf abzielt, die „dauerhafte Beachtung des Vertrages mit Blick auf das Vertragssystem oder den wesentlichen Kern seiner Grundprinzipien“ zu verhindern bzw. zu beeinträchtigen.[35] Ein solcher Ausnahmefall steht – trotz seiner Anwendbarkeit in vermutlich nur seltenen Grenzfällen – deutlich in Widerspruch zur Entscheidung des EuGH im Fall Simmenthal. Die mögliche Erklärung hierfür ist, dass diese Ausnahme vom Verfassungsgericht im Urteil Nr. 170 wahrscheinlich vor allem eingefügt wurde, um den radikalen Wechsel seiner Judikatur abzumildern.[36]
(3) Die Corte costituzionale hat außerdem ausdrücklich festgehalten, dass im Anwendungsbereich von Art. 127 Cost.[37] ein Konflikt zwischen einem nationalen Gesetz und einer auch unmittelbar anwendbaren europarechtlichen Norm von der nationalen Regierung oder einer Region dem Verfassungsgericht vorgelegt werden kann.[38]
cc) Der nur indirekte Dialog zwischen dem Verfassungsgericht und dem EuGH
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Der EuGH ist zuständig, im Wege der Vorabentscheidung die europarechtlichen Normen zu interpretieren (vgl. Art. 234 lit. a und b EG) und gegebenenfalls die unmittelbare Geltung einer europarechtlichen Norm festzustellen, sofern eine derartige Frage vor einem Gericht eines Mitgliedstaates entscheidungserheblich wird. Damit hängen der Sache nach sowohl die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines einer Gemeinschaftsnorm widersprechenden nationalen Gesetzes[39] als auch die Kompetenz der Corte costituzionale von der Vorabentscheidung des EuGH ab. Die Corte costituzionale wollte jedoch nicht akzeptieren, in „Gemeinschaftsangelegenheiten“ eine dem EuGH so deutlich untergeordnete Rolle zu spielen und lehnt es daher ab, als ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 234 EG verstanden zu werden.[40] Sie begründet dies damit, dass sie wegen der erheblichen Unterschiede zwischen ihrer Funktion und derjenigen anderer Gerichte nicht zu den ordentlichen oder besonderen Gerichten gerechnet werden könne (siehe Beschluss Nr. 536 vom 29.12.1995). Das Verfassungsgericht fordert daher, dass jede „Gemeinschaftsfrage“, die die strittige Norm betrifft, zunächst vom direkt befassten Gericht entschieden wird; andernfalls droht die Unzulässigkeit der Vorlage zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit