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Diese Auffassung ist kritisiert worden, nicht nur, weil das Verfassungsgericht in jeder Beziehung als ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ anzusehen ist, sondern auch weil es ein Gericht letzter Instanz ist, das als solches nicht nur befugt, sondern verpflichtet ist, sich im Wege der Vorabentscheidung an den EuGH zu wenden (vgl. Art. 234 Abs. 3 EG). Die Auffassung der Corte costituzionale wird zudem heftig kritisiert, weil bei Kompetenzkonflikten zwischen Staatsorganen oder zwischen Staat und Regionen oder bei der abstrakten Normenkontrolle eine Rückverweisung an das zunächst befasste Gericht nicht in Betracht kommt, weil es in diesen Fällen kein vorher befasstes Gericht gibt. Zumindest in diesen letztgenannten Fällen habe das Verfassungsgericht bei Fragen über die Auslegung von Gemeinschaftsnormen keine andere Möglichkeit, als dem EuGH die Frage über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen.[41]
c) Die so genannte „controlimiti“-Lehre
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Die Anerkennung des Vorrangs des Europarechts vor dem nationalen Recht durch das Verfassungsgericht im Urteil Frontini und noch deutlicher im Urteil Granital warf das Problem der Identifizierung von möglichen Grenzen – den so genannten „controlimiti“ – dieses Vorrangs auf. Das Fehlen eines Katalogs von Grundrechten in den europäischen Verträgen beinhaltete die Gefahr einer Verletzung der in der italienischen Verfassung garantierten Grundrechte durch das Gemeinschaftsrecht. Die Corte costituzionale hatte schon mit dem Urteil Acciaierie San Michele Nr. 98 vom 27.12.1965 festgestellt, dass Art. 11 Cost. nur Beschränkungen der Souveranität zulässt, die die unverletzlichen Menschenrechte des Art. 2 Cost. nicht verletzen. Die „controlimiti“-Lehre ist dann durch die Urteile Frontini, Granital und Fragd gegen Amministrazione delle Finanze Nr. 232 vom 21.4.1989 weiter entwickelt und präzisiert worden. Wenn eine europarechtliche Norm verfassungsrechtliche Grundprinzipien („principi fondamentali dell’ordinamento costituzionale“) oder unveräußerliche Menschenrechte („diritti inalienabili della persona umana“) verletzt, ist das Verfassungsgericht nach der „controlimiti-Lehre“ nicht nur befugt, sondern verpflichtet, den in dem einfachen Ausführungsgesetz zu dem entsprechenden europäischen Vertrag enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl aufzuheben.[42] Um jedoch zu verhindern, dass die Aufhebung des Anwendungsbefehls die einschneidende Folge hat, die Mitgliedschaft Italiens in der Gemeinschaft in Frage zu stellen, betrifft die Aufhebung nicht den gesamten Anwendungsbefehl, sondern wird nur mit Bezug auf den Teil wirksam, der den Eingang der spezifischen, mit einem Verfassungsprinzip oder einem unverletzlichen Recht in Widerspruch stehenden Gemeinschaftsnorm in die nationale Rechtsordnung ermöglicht. Dieses Vorgehen erlaubt es, die Feststellung der teilweisen Verfassungswidrigkeit des Anwendungsbefehls praktisch unbegrenzt zu wiederholen, nämlich jedes Mal für den Teil, der den Eingang einer bestimmten Norm in die italienische Rechtsordnung ermöglicht. Durch die Erfindung dieses Mechanismus hat sich die Corte costituzionale die Zuständigkeit verliehen, normative Akte der Gemeinschaft aufzuheben, allerdings nur mit auf das italienische Staatsgebiet begrenzter Wirkung und in praktisch nur seltenen Grenzfällen. Die Begründung für diese Zuständigkeit entnimmt das Verfassungsgericht Art. 11 Cost., der es zwar zulässt, die nationale Souveränität zu „beschränken“, nicht aber den Gemeinschaftsorganen die Zuständigkeit zu übertragen, den unantastbaren Kern der Verfassung zu verletzen, den die „grundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung“ und „die unverletztlichen Rechte des Menschen“ darstellen.[43]
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Nach der Durchsetzung des Schutzes der Grundrechte in der Judikatur des EuGH durch die allgemeinen Grundsätze und vor allem nach der Einfügung von Art. F Abs. 2 (jetzt Art. 6 Abs. 2) des EU-V scheint eine Verletzung dieser Grundprinzipien bzw. Menschenrechte sehr unwahrscheinlich, und in der Tat ist die Nichtigerklärung (eines Teiles) des Rechtsanwendungsbefehls durch das Verfassungsgericht bislang noch nie vorgekommen.
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Letztlich haben also die europarechtlichen Normen Vorrang vor allen nationalen, auch verfassungsrechtlichen Normen, mit der einzigen Ausnahme der Grundprinzipien der Verfassung und der unveräußerlichen Menschenrechte.
4. Die Verfassungsnovelle des Jahres 2001 und ihre Folgen
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Die Verfassungsnovelle des Jahres 2001 (Reform der Beziehungen zwischen Staat und Regionen) hat zum ersten Mal das Phänomen der europäischen Integration in der italienischen Verfassung ausdrücklich in zahlreichen Vorschriften berücksichtigt. Der neu gefasste Art. 117 Abs. 1 Cost. legt die Grenzen für die staatliche und die regionale Gesetzgebung nieder und erwähnt ausdrücklich neben der nationalen Verfassung und den sich aus internationalen Verpflichtungen ergebenden Grenzen auch die aus der Gemeinschaftsordnung folgenden Schranken („vincoli derivanti dall’ordinamento comunitario“).
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Daraus ergibt sich zunächst folgende Frage: Kann der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. als „Europa-Artikel“ verstanden werden? Anders gewendet: Ist er eine Norm, die – wie z.B. Art. 23 GG in Deutschland – die Grundlage für weitere Übertragungen von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene (mit den damit verbundenen Verfahren und Grenzen) schafft? Die Frage ist mit einem klaren „Nein“ zu beantworten.[44] Die Vorschrift regelt die nationale Gesetzgebung und ihre Grenzen. Weitere Übertragungen von Hoheitsrechten werden durch Art. 117 Abs. 1 Cost. nicht ermöglicht. Deshalb können weitere Schritte der europäischen Integration auch zukünftig nur auf der Grundlage von Art. 11 Cost. erfolgen.[45]
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Dies wirft die Frage nach der spezifischen Funktion des neuen Art. 117 Abs. 1 Cost. auf. Diese Frage ist nach der Verfassungsreform des Jahres 2001 von der Rechtslehre intensiv – obwohl nicht immer mit klaren Ergebnissen – diskutiert worden. Nach h.L. hat die erwähnte Verfassungsnovelle die bisherige Gesamtordnung des Verhältnisses zwischen Europarecht und nationalem Recht grundsätzlich nicht geändert, sondern nur die bisherige Rechtsprechung – d.h. den oben dargestellten „cammino comunitario“ der Corte costituzionale – bestätigt und kodifiziert.[46] Dieser Meinung kann man jedoch nicht völlig zustimmen. Wie schon oben erwähnt wurde, regelt der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. nur die Grenzen der nationalen Gesetzgebung. Deshalb kann Art. 117 Abs. 1 Cost. den gesamten „cammino comunitario“ in Fragen des Verhältnisses von Europarecht zu nationalem Recht – einschließlich des Verhältnisses von Europarecht zu nationalem Verfassungsrecht – nicht bestätigt und kodifiziert haben. Art. 117 Abs. 1 Cost. kann also nur die vom Verfassungsgericht in seinem „cammino comunitario“ erreichten Ergebnisse über das Verhältnis von Europarecht zu nationalen einfachen Gesetzen bestätigt und kodifiziert haben.[47] Der Vorrang des Europarechts vor dem Verfassungsrecht (mit der Grenze der so genannten „controlimiti“) findet deshalb immer noch seine Grundlage allein in Art. 11 Satz 2 Cost.
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Weiterhin wird vertreten, dass die verfassungsrechtlichen Wurzeln der italienischen Mitgliedschaft in der EU infolge der Verfassungsnovelle solider geworden seien. Jetzt sei die Erforderlichkeit eines verfassungsändernden Gesetzes für den (allerdings höchst unwahrscheinlichen) Austritt Italiens aus der EU unbestreitbar.[48] Die Verpflichtung des nationalen einfachen Gesetzgebers, die sich aus dem Europarecht ergebenden Bindungen zu beachten, ist jedoch schon durch den „cammino comunitario“ des Verfassungsgerichts vor der Verfassungsnovelle erreicht worden (siehe die Urteile Frontini und Granital). Es scheint daher zutreffend, dass ein eventueller Austritt Italiens aus der EU (d.h. die Auflösung der europäischen Bindungen) schon vor der Verfassungsnovelle nicht durch ein einfaches Gesetz hätte erfolgen können, umso mehr, als Gesetze, „die darauf abzielen, die dauerhafte Beachtung der Verträge mit