„Aber zur Hitlerzeit waren Sie noch ein Kind“, bemerkte Julien.
„Ich war acht, als er an die Macht kam, und vierzehn, als er den Krieg erklärte. Da waren wir schon in Spanien. Dort lernte ich Simón kennen, meinen späteren Mann. Wir kämpften im Untergrund gegen Hitler und gegen Franco. Nach Kriegsende, als Deutschland von den Alliierten überwacht wurde, konnte die Kameradschaft nicht mehr ungestört operieren und suchte bei Franco Unterschlupf. Als Gegenleistung jagte sie Regimegegner für ihn und folterte oder ermordete sie. Wir standen auf ihrer Liste.“
„Und wie ging es weiter?“
„Als wir von der Liste erfuhren, brachten wir unseren kleinen Sohn in Sicherheit – weit weg, zu Freunden nach Kanada. Wir kehrten zurück und setzten den Kampf fort. Ein Jahr später hörten wir, dass sich in Südamerika eine Gruppe bildete, die so leben wollte, wie wir uns das vorstellten. Wir wollten weg aus Spanien, weg von diesem Diktator, den wir doch nicht stürzen konnten. Wir wollten mit unserem Sohn ein neues Leben beginnen und holten ihn in Kanada ab. Auf dem Rückweg fielen wir der Kameradschaft in die Hände.“ Frau Schmidt machte eine Pause und starrte ins Leere. Schmerz breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie atmete schwer, bevor sie fortfuhr: „Sie ermordeten Simón und nahmen meinen Sohn und mich gefangen. Mehrere Wochen später konnten wir fliehen und kamen über Umwege nach Deutschland. Ich träumte weiter davon, nach Südamerika zu gehen, doch mein Sohn sträubte sich mit aller Kraft. Er war traumatisiert und wollte nichts mehr mit unserer Vergangenheit zu tun haben. So sind wir hier geblieben.“
„Und die Kameradschaft?“
„Ich weiß es nicht. Ich hatte eine gute Tarnung und war immer sehr vorsichtig. Bis gestern hatte ich nichts mehr von ihnen gehört, obwohl ich immer damit gerechnet habe. Das sind Bluthunde. Die geben nicht auf, bis man tot ist.“
Während Frau Schmidt erzählte, achtete ich darauf, dass meine Miene nichts verriet. Ich war fasziniert und entsetzt zugleich. Angenommen, sie war wirklich meine Großmutter, dann war ihr kleiner Sohn mein Vater. Oh Gott, wie schrecklich das alles war. Es würde diesen unendlich traurigen und ängstlichen Blick erklären, den mein Vater Zeit seines Lebens hatte. Und vielleicht auch seine Abneigung gegen mein Fliegen. Wenn … Sie hatte das Fliegen nicht erwähnt, doch ich hatte genau zugehört, sie hatte nichts gesagt, was darauf hindeuten würde, dass sie nicht geflogen waren. Mein Vater stritt zwar bis heute ab, dass Großmutter fliegen konnte, von ihm ganz zu schweigen, aber irgendwo musste ich es doch her haben. Außerdem hatte sie sich vorhin korrigiert, als sie davon gesprochen hatte, wen die Kameradschaft verfolgte. Das hätte gut „fliegendes Volk“ heißen können. Ich hoffte, Julien würde seine Befragung weiter fortsetzen, damit ich noch mehr erfahren konnte. Doch es schien ihm genug zu sein.
Er bedankte sich bei ihr und stand auf. „Ich werde eine Bewachung für Sie veranlassen“, sagte er, zog sein Handy aus der Tasche und ging aus dem Zimmer.
Frau Schmidt winkte mich an ihr Bett. „Hast du schon etwas herausgefunden?“, fragte sie mich leise.
Mein Ärger wallte wieder hoch. Ich schüttelte etwas zu heftig den Kopf. Bevor ich diesen Ärger in Worte fassen konnte, fuhr sie fort: „Könntest du mir einen Gefallen tun? Könntest du einen Blick in den Laden werfen und mir berichten, wie schlimm es ist? Ich will ein bisschen vorbereitet sein, wenn ich heimkomme.“
„Warum sagen Sie mir nicht, worum es geht?“, wollte ich wissen, ohne auf ihre Bitte einzugehen. „Es ist unfair, vor allem, wenn wir beide in Gefahr sind!“
„Schscht“, machte sie, „Elli, es nützt nichts, wenn du dich aufregst. Ich kann nicht darüber sprechen, das habe ich dir schon gesagt. Ich habe mein Wort gegeben. Du musst es selbst herausfinden. Erinnere dich. Du schaffst das, das weiß ich ganz sicher.“
Ich war noch immer ärgerlich, aber nicht mehr so schlimm. Ihr Vertrauen in mich besänftigte mich seltsamerweise – und machte mich auch stolz, irgendwie.
„Geh aber nicht erst abends hin, und sei sehr vorsichtig, nicht dass du jemandem von der Kameradschaft in die Arme läufst.“
„Oder der Polizei“, ergänzte ich, „die fahren jetzt öfter Streife.“
Frau Schmidt wollte gerade noch etwas sagen, als Julien wieder zur Tür hereinkam. Sie warf mir einen konspirativen Blick zu und sah Julien dann fragend an.
„Alles in die Wege geleitet“, verkündete er, „die Kollegen werden gleich hier sein.“
Nachdem eine Polizistin und ein Polizist eingetroffen waren und Julien die beiden instruiert hatte, machten wir uns auf den Weg.
„Wie findest du die Geschichte?“, frage er mich unterwegs. Ich war ziemlich von den Socken wegen der Zusammenhänge, die ich vermutete. Darüber wollte ich aber noch nicht sprechen.
„Aufregend“, sagte ich deshalb nur.
„Dann bin ich mal gespannt, ob deine Geschichte genauso aufregend ist“, scherzte er und lenkte damit geschickt das Thema auf mich.
2. Kapitel
Nun war es also so weit. Ich musste Rede und Antwort stehen. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass ich das auch wollte – obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es inzwischen in Julien aussah, wie er zu meiner besonderen Fähigkeit stand. Er war den ganzen Vormittag über locker gewesen, doch ich war unruhig deswegen. Trotzdem freute ich mich, endlich mal mit jemandem darüber sprechen zu können. Und nicht zuletzt hoffte ich, dass mir während des Redens eine Erkenntnis kommen würde, die mich weiterbrächte im großen Rätselraten.
Julien hielt den Wagen auf einem Waldparkplatz an. Die Sonne ließ die Blätter der Bäume leuchten, auch wenn kein Sonnenstrahl den Boden traf. Es war angenehm kühl im Wald. Draußen Mittagshitze, kein Mensch unterwegs. Perfekt.
„Schieß los“, forderte ich ihn auf.
„Zeig’s mir noch mal“, sagte er als Erstes und klang ein bisschen verschämt. Ich sah ihn verblüfft an und kontrollierte schon routinemäßig die Umgebung.
„Aber nur kurz“, sagte ich, „dann reden wir erst mal.“ Ich hatte das Gefühl, er könnte es besser verarbeiten, wenn er mehr von mir wusste. Fröhlich nickte er.
Ich musste mir tatsächlich ein Herz fassen. Zu zeigen, was ich fast mein ganzes Leben verborgen hatte, war so neu. So aufregend. Ich machte mich leicht und hob ein paar Zentimeter vom Boden ab. Nicht viel, doch Juliens Augen wurden schon kugelrund vor Staunen. Er sah aus wie ein Kind vorm Christbaum. Also gut – ich schwebte ein Stückchen von ihm weg und nach oben, flog ein paar Kreise, ein bisschen hoch und runter und landete dann wieder vor ihm. Was ich wirklich drauf hatte, konnte ich ihm noch nicht zeigen, meine Kunststücke zum Beispiel, denn ich hatte mir vorgenommen, ihn nicht gleich mit allem zu überfallen. Er sollte Gelegenheit haben, sich langsam an die neue Elli zu gewöhnen.
Er strahlte übers ganze Gesicht. „Elli“, hauchte er ehrfürchtig, „das ist das Fantastischste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.“
Dass er so reagierte, stimmte mich froh. Er hätte auch schockiert sein können. Mich ablehnen, weil er es nicht verstand. Nun musste ich mir ernsthaft zureden, nicht übermütig zu werden, weil ich merkte, wie groß mein Verlangen war, ihm alles vorzuführen, was ich auf der Palette hatte.
„Kann ich dich mal anfassen, wenn du schwebst?“, wollte er wissen.
Meine Begegnung mit Frau Schmidt heute Morgen kam mir in den Sinn. So viel Nähe könnte ich im Moment noch nicht verkraften. Doch dann fiel mir ein, dass ich mit Julien schon oft ganz normalen Körperkontakt gehabt hatte und dass die Verbindung von mir hergestellt werden musste, wenn ich schwebte. So war es zumindest bei meiner kleinen Schwester immer gewesen.
„Na klar“, sagte ich, machte mich leicht und legte mich vor ihm in die Luft. Wie diese Damen, die im Fernsehen immer vor dem Magier