Julien bestand darauf, mich nach Hause zu bringen, obwohl ich lieber geflogen wäre. Ich wollte das Thema aber dann doch nicht mehr anschneiden. Hätte mir allerdings denken können, dass Julien sich nicht so einfach zufrieden gab. Er nötigte mir das Versprechen ab, ihm am nächsten Morgen alles, aber auch restlos alles zu erklären. Wir verabredeten uns zum Frühstück in seinem Lieblingscafé, und er brauste davon. Es war schon so spät, dass nicht zu befürchten war, es würde jemand im Treppenhaus herumspazieren, also schoss ich die Treppen im Dunkeln nach oben in den elften Stock, wo meine Wohnung lag. Als ich die Tür hinter mir schloss, stiegen mir schlagartig Tränen in die Augen. Nun merkte ich doch, wie angespannt ich die ganze Zeit gewesen war. Dusche und Bett, mehr verkraftete ich jetzt nicht mehr. Julien hatte recht gehabt. Ich hatte genug. Auf dem Weg zum Bad zerrte ich mir die Klamotten vom Körper, konnte plötzlich kaum noch erwarten, warmes Wasser auf der Haut zu spüren. Heißes Wasser eigentlich, fast an der Schmerzgrenze. Ich wollte am liebsten die ganze Aufregung des heutigen Abends von mir abspülen – natürlich ohne Erfolg.
All die Menschen schwirrten in meinem Kopf herum – Frau Schmidt, die Verbrecher, Julien, seine Kollegenmannschaft. Alles wuselte durcheinander und formte sich zu neuen, skurrilen Bildern und ich immer mittendrin, fliegend, wütend. Ich brachte keinen klaren Gedanken zustande. Hätte diese Dusche mich nicht einfach entspannen können? Resigniert stellte ich das Wasser ab, brachte meine Abendtoilette zu Ende und kroch in meinem gemütlichsten Schlafanzug ins Bett. Obwohl an Schlaf nicht zu denken war, wenn ich es nicht schaffte, mich zu beruhigen. Ich versuchte, meinem Atem zu folgen, wie er sich in meinem Körper ausbreitete. Nichts weiter. Nur atmen. Dann konzentrierte ich mich auf die Empfindung meiner Arme und Beine. Atem, Arme, Beine – nur das. Später den restlichen Körper dazu, atmen, empfinden. Langsam wurde es stiller in mir.
Ich dachte an Julien. Nur an Julien. Alle anderen Personen sperrte ich aus. Sie waren mit zu vielen verwirrenden Bildern verknüpft. Julien war verlässlich. Er war heute so gewesen wie immer und würde es auch morgen sein. Bis auf die Tatsache, dass er seit ein paar Stunden mein Geheimnis kannte. Morgen würde ich ihm alles erzählen müssen, und deswegen war es gut, jetzt noch ein bisschen an ihn zu denken. Mir in Erinnerung zu rufen, was ich von ihm wusste. Wie ich meine Erklärung so gestalten konnte, dass er sie verstand.
Ich kannte Julien jetzt gut ein Jahr. Wir waren uns in einem Seminar zur Kriminalliteratur begegnet. Ich studierte Sprachen und arbeitete mich nebenbei durch alle angebotenen Genres in der Literaturabteilung, denn eigentlich träumte ich davon, Schriftstellerin zu werden. Julien war Hauptkommissar bei der hiesigen Kripo und wollte ebenfalls schreiben. Einem echten Kommissar zu begegnen, fand ich sehr spannend. Mein ganzes Wissen über das Innere eines Polizeireviers stammte aus Kriminalfilmen und jetzt hatte ich ein lebendes Exemplar vor mir. Ich fragte und fragte und fragte. Julien war der geduldigste Antworter, den ich je kennengelernt hatte. Vielleicht lag es einfach daran, dass er seinen Beruf über alles liebte – nicht ganz so wie seine kleine Tochter und seinen Freund, aber genug, um mir mit Begeisterung auch nach Stunden noch ausführlich zu antworten.
Wir hatten von Anfang an ein Faible füreinander und trafen uns auch noch, nachdem das Seminar beendet war. Ich lernte Juliens Familie kennen: seine Tochter Martha, seinen Freund Gus. Martha sah aus wie eine Miniaturausgabe von Julien mit längeren Haaren. Sie war gerade in die Schule gekommen. Gus hieß eigentlich Gustav, doch so durfte ihn niemand nennen, nur Martha, wenn sie sauer auf ihn war. Das kam allerdings nicht sehr oft vor, denn Gus lag Martha zu Füßen. Er war originell, fantasievoll und sehr einfallsreich, wenn es darum ging, das Kind bei Laune zu halten. Er hatte Martha sein gesamtes Schlagerrepertoire beigebracht – das ungefähr dreißig Jahre umfasste. Natürlich wollte Martha Schlagersängerin werden. Und sie hatte beschlossen, niemals zu heiraten, sondern immer bei Papa und Gus zu wohnen.
Marthas Mutter fuhr zur See. Als sie schwanger geworden war, hatten Julien und sie versucht, eine normale Familie zu sein. Nach zwei Jahren hatten sie sich geeinigt, dass Martha bei Julien bleiben sollte, und sie war wieder losgezogen. Ungefähr zur selben Zeit, als Julien Gus kennenlernte und entdeckte, dass er eigentlich auf Männer stand, war sie zu Greenpeace gegangen. Martha war gerade drei geworden. „Ich bin nun mal kein Muttertier, aber ich liebe meine Tochter und kann auf diese Weise etwas für sie tun“, hatte sie ihm von dem Schiff, auf dem sie unterwegs war, geschrieben. Julien hatte mir das erzählt, weil Martha eines Tages auf dem Spielplatz auf die Frage nach ihrer Mutter stolz geantwortet hatte: „Meine Mama ist kein Muttertier, sie ist Seefahrerin.“ Wie sie diesen Ausdruck aufgeschnappt haben konnte, war ihm bis heute ein Rätsel geblieben. Jedenfalls hatte Martha Papa, „mein Gus“ und Mama. Und seit einem Jahr auch noch „meine Elli“. Hin und wieder passte ich nämlich auf sie auf, wenn Papa und Gus mal ausgehen wollten.
Julien war fünfunddreißig, groß und schlank, hatte hellbraune, kurze Locken, dunkelgraue Augen und ein unglaublich warmes Lächeln. Er war einfühlsam, intelligent und ein bisschen draufgängerisch. Er hatte eine nicht zu verstehende Vorliebe für locker sitzende Cordhosen – sehr zum Leidwesen von Gus und mir, weil sie seine wirklich gute Figur überhaupt nicht zur Geltung brachten. Nur zum Ausgehen brezelte er sich auf. Manchmal sah er so umwerfend aus, dass Martha, Gus und ich uns einig waren, den schönsten Mann der Welt zu kennen. Julien war mein bester Freund, aber zum Glück war er nicht mein Typ. Keine Probleme also.
Ich fragte mich oft, wer denn eigentlich mein Typ sei, denn bisher war ich ihm noch nicht über den Weg gelaufen. Mein Liebesleben entsprach dem einer Nonnenanwärterin. Nicht, dass es mich sonderlich gestört hätte, meistens war ich zu beschäftigt mit studieren, schreiben, bei Frau Schmidt rumhängen – und natürlich jede Nacht ein paar Stunden fliegen. Und dann hatte ich ja noch Julien, Martha und Gus. Nur manchmal, wenn ich an meine Zukunft dachte, kam es mir komisch vor, dass ich keine Vorstellung davon hatte, wie ich überhaupt eine Beziehung führen könnte mit einem normalen Mann. Ich hätte mir gewünscht, jemanden zu finden, der auch flog. Wie sollte das denn sonst gehen – mit einem Mann, der es nicht konnte? Ihn einweihen? Ihn jede Nacht verlassen, um allein herumzufliegen? Vielleicht würde ein normaler Mann ja wollen, dass ich es aufgäbe. Das ginge schon mal gar nicht. So drehten sich meine Gedanken immer im Kreis, bis ich ärgerlich auf mich selbst wurde und diesen Quatsch einfach sein ließ. Normale Männer waren also nicht so interessant für mich wie ich für sie. Allzu häufig musste ich allerdings keinen abwimmeln. Ich galt als unnahbar.
Tja, jemanden, der fliegen konnte, hatte ich bis jetzt noch nicht getroffen. Deshalb fühlte ich mich manchmal einsam. Dass ich es konnte, wusste auch keiner. Außer meinen Eltern. Und jetzt Julien. Noch nicht mal meine kleine Schwester wusste es. Bei diesem Gedanken wurde ich traurig, wie immer, wenn ich an sie dachte. Da ich das gerade am allerwenigsten gebrauchen konnte, konzentrierte ich mich schnell wieder auf meinen Atem. Ich war ziemlich abgeschweift von Julien und meiner Erklärung. Aber heute fiel mir nichts mehr ein. Es wurde auch bald hell, ich sollte jetzt doch noch ein wenig schlafen. Probehalber schloss ich die Augen, merkte auf einmal, wie müde ich war, und vergrub mich in meiner weichen Bettdecke.
Der Kampf mit den Verbrechern verfolgte mich bis in meine Träume. Diesmal waren es viele. Sie waren mir alle unbekannt, man hatte mir nur gesagt, sie seien Verbrecher und verdienten Strafe. Ich war absolut skrupellos und blutrünstig und in meinem Zorn ihnen allen überlegen. Körperteile flogen durch die Gegend und sehr viel Blut spritzte. Ich war die personifizierte Raserei und ununterbrochen am schreien. Davon wachte ich dann auf. Meine Kehle war rau, als ob ich tatsächlich geschrien hätte. Erleichtert bestätigte ich mir selbst, dass es nur ein Traum gewesen war. So wollte ich mich im echten Leben niemals fühlen.
Der Aufenthalt im Bett hatte mich eher erschöpft als erfrischt. Es hieß ja, dass man über gewisse Dinge eine Nacht schlafen solle. Damit war bestimmt kein Abend wie mein gestriger gemeint. Ich war immer noch durcheinander. Das bisschen Schlaf und der Traum hatten es nicht besser gemacht.
Im Dämmerlicht des neuen Tages ließ ich den Blick über meine wenigen Möbel schweifen. Meine Wohnung war sehr übersichtlich, ein Zimmer, eine kleine Küche, ein Bad und ein winziger Balkon. Gute Start- und Landebahn. Die Einrichtung war eher zweckmäßig als gemütlich. Ich brauchte Bewegungsfreiheit und hatte fast keine Deko, damit ich beim Herumschweben nichts herunterwerfen konnte. Ich übte oft, mich zu beamen, wie ich es nannte. Dabei schwebte ich, so