Langsam ließen die schrecklichen Bilder und der unsägliche Zorn aus meinem Traum nach. Ich wurde wieder normal. Machte mir einen Tee und zog frische Sachen an. Große Auswahl hatte ich nicht. Eng anliegende Hosen, T-Shirts und Pullover. Das weite Zeug knatterte zu laut beim Fliegen. Ich konnte dann nicht so gut hören, wurde aber von anderen gehört. Also hatte ich hauptsächlich enge Kleidung. In gedeckten Farben, am liebsten blau und grün. Passte ganz gut zu meinen Haaren und Augen. Augen blaugrüngrau, Haare irgendwo zwischen blond und hellbraun. Aschblond nannte meine Mutter die Farbe. Arschblond meine kleine Schwester. Grinsend. Gelb, orange, rot und andere leuchtende Farben gab es bei mir höchstens als Accessoires, die ich schnell ablegen konnte, nur für den Fall.
Wenn ich nachts flog, trug ich einen dunkelblauen Radrennanzug. Ein wunderbar windschlüpfriges Modell. Ich hatte noch einen silbergrauen für tagsüber. Den hatte ich in der Regel unter meinen Klamotten an – wenn es nicht gerade so heiß war wie in den letzten Tagen. Meine Schuhe waren immer flach, immer dunkel, immer biegsam. Mit steifen Sohlen in einem Baum herumturnen ging nun einmal nicht. Für den Winter hatte ich Hirschlederstiefel aufgetan, die waren zwar sündhaft teuer, aber unvergleichlich geschmeidig. Bei guter Pflege hielten sie ein paar Jahre, jetzt, wo ich nicht mehr größer wurde. Außerdem brauchte ich kein Auto, deshalb konnte ich mir alle paar Jahre diesen Luxus leisten.
Mein Magen knurrte. Bevor ich mich mit Julien traf, wollte ich noch bei Frau Schmidt vorbei, also steckte ich mir einen Müsliriegel für unterwegs ein. In dieser Hinsicht kam ich mir schon manchmal vor, als stamme ich von Vögeln ab. Von körnerfressenden allerdings. Mit allem, was körnig war, war ich sehr leicht zufriedenzustellen. Passte gut, Müsliriegel gab es an jedem Kiosk.
Ich klemmte das Skateboard unter den Arm, nahm wie üblich das Treppenhaus. Niemand zu hören, also sauste ich in einem Schwung nach unten. War fast angekommen, als mein Handy klingelte. Das konnte ich ja überhaupt nicht leiden. Meistens hatte ich es gar nicht an, damit es mich nicht verriet, wenn ich gerade in der Luft war. Oder in einer Situation wie jetzt zum Beispiel. Heute hatte ich es angeschaltet – wegen Julien und Frau Schmidt. Ich stoppte abrupt und lief den Rest der Treppe zu Fuß, während ich in meiner Tasche nach dem Handy kramte. Es war Rumina, eine Kommilitonin, mit der ich gemeinsam ein Referat schrieb. Sie klang aufgelöst.
„Elli, kannst du deinen Laptop mitbringen? Meiner hat gerade den Geist aufgegeben. Der ganze Text ist futsch!“ Sie redete noch weiter, doch ich hörte gar nicht hin. Mist, vor lauter Überfall hatte ich ganz vergessen, dass ich mit ihr verabredet war.
„Elli, du hast ihn doch gespeichert, oder? Auf deinem Laptop?“ Rumina klang besorgt.
„Eh, ja, klar, ich hatte nur vergessen, dass wir verabredet waren. Bei mir ist was passiert, ich kann heute nicht.“
„Du weißt aber schon, dass wir morgen dran sind mit dem Referat?“ Jetzt war sie aufgebracht.
„Rumina, sorry, ich hab echt grad andere Sorgen. Kannst du das Referat nicht allein halten? Sag einfach, ich bin krank geworden. Bitte! Ich bring dir auch meinen Laptop vorbei, aber ich kann wirklich nicht.“
Ich war schon wieder auf dem Weg nach oben. Sprang halb schwebend die Treppen hinauf, mit einem Ohr am Hörer und mit dem anderen bei den Umgebungsgeräuschen. Zum Glück war Rumina zurückhaltend genug, um nicht weiterzufragen. Wir kannten uns nicht besonders gut, hatten nur ein paar Seminare gemeinsam. Sie wirkte beleidigt, doch das konnte ich jetzt nicht ändern. Oben in der Wohnung stopfte ich den Laptop in die Tasche und sauste wieder los. Wenn ich noch bei Rumina vorbeiwollte, musste ich mich beeilen. Trotzdem hielt ich unten vor der Tür einen Augenblick inne. Ich hatte zu viel erlebt seit gestern, um gedankenlos in das Hamsterrad einzusteigen. Es war noch früh, die Luft war morgendlich frisch, der Himmel jetzt schon strahlend blau. Der Tag versprach, heiß zu werden. Ein Julitag, wie man ihn sich vorstellte. Ich nahm einen tiefen Atemzug voll Sommerluft. Die Vögel zwitscherten aus Leibeskräften.
Mein Hochhaus stand in einer Wohnblocksiedlung am Stadtrand. Nur wenige Meter vom Haus entfernt begann ein schmaler Streifen Wald. Weil die Bäume des Waldstreifens nicht bis hoch in den elften Stock ragten, waren die Vögel dort kaum zu hören, nur wenn sie alle zusammen loslegten oder ich im Schwebezustand war. Das war das Einzige, was ich da oben vermisste. Mein Balkon zeigte zum Wald hin. Wenn ich von hier aus losflog, musste ich nur ein paar Meter an der Fassade nach unten schweben und konnte dann die kurze Strecke bis zu den ersten Bäumen in gerader Linie sehr schnell zurücklegen.
Ich sprang auf das Skateboard und raste los. Das Board war mein Alltagsfahrzeug. Es hatte nur Alibifunktion, eigentlich schwebte ich in aufrechter Haltung und sorgte dafür, dass das rollende Board unter meinen Füßen blieb. In belebten Gegenden hatte ich mich sogar schon ohne Board so bewegt. Da die meisten Leute nicht genau guckten, fiel es gar nicht auf, und wenn einer mal hinsah, war ich meistens schon weg, bevor er sich die Frage stellte, ob er sich getäuscht hatte oder nicht. Ohnehin hatte ich immer unauffällige, möglichst kleine Boards, da sie nicht wirklich etwas leisten mussten, außer gut in meinen Rucksack zu passen, wenn ich flog. Gelegentlich hatte ich sogar eines zurücklassen müssen.
Bei den echten Skatern hatte ich mir die Tricks abgeguckt, die ich brauchte, um nicht aufzufallen. Leider konnte ich das Board genauso wenig unter den Füßen halten wie sie, wenn ich ungeschickt war. Verbinden konnte ich mich nur mit Lebewesen, nicht mit Material. Ich versuchte es immer wieder, doch bis jetzt war es mir noch nicht gelungen. Nur manchmal bildete ich mir ein, es für einen kurzen Augenblick geschafft zu haben. Dummerweise ließ es sich nie wiederholen.
Ich fuhr sehr gern sehr schnell. Wenn niemand auf der Straße war, gab ich richtig Gas. Musste mich nur zusammennehmen, wenn ich gesehen wurde. Allerdings hatte ich im Schwebezustand auch eine recht passable Reaktionszeit, abgesehen davon, dass meine Sinne dann besser funktionierten als sonst. Deshalb machte ich mir nie allzu viele Gedanken, wenn ich losraste. Bisher hatte es noch immer geklappt, rasch auf Normalgeschwindigkeit zu gehen und typische Skaterbewegungen zu machen, wenn jemand auftauchte.
Bei Rumina hielt ich mich nicht lange auf. Sie konnte nicht verstehen, warum ich sie im Stich ließ und ich wollte es nicht erklären. Wusste doch selbst nicht genau, was los war. Trotz des Umwegs war ich ziemlich schnell am Krankenhaus und hüpfte vom Board. Ließ es in meinen Arm springen, während ich weiterlief. Diesen Auftritt liebte ich, besonders, weil er in Skateraugen ungemein lässig aussah und ich manchmal meine Freude daran hatte, damit anzugeben – wenn ich mich sonst schon immer zurückhalten musste mit meinen eigentlichen Fähigkeiten.
Frau Schmidt war wach und sah mich unergründlich an, als ich zur Tür hereinkam. Sie wirkte zerbrechlich in ihrem Bett, obwohl sie sonst immer eine sehr starke Ausstrahlung hatte. So, als könnte ihr niemand etwas anhaben. So, als hätte sie schon alles erlebt, was es an Herausforderungen anzunehmen gab. Der Überfall schien sie wirklich mitgenommen zu haben. Zur Begrüßung fragte sie mit rauer Stimme: „Wo hast du deinen Kommissar gelassen? Will er nicht meine Aussage aufnehmen?“
„Dein Kommissar“, so nannte sie Julien. Ich hatte den Eindruck, dass sie Vertreter der Staatsgewalt im Allgemeinen nicht besonders mochte. Julien konnte sie allerdings gut leiden.
„Wir kommen nachher nochmal zusammen“, antwortete ich und schlug die Augen nieder, „habs nicht ausgehalten, so lange zu warten, ich musste einfach wissen, wie es Ihnen geht.“ Plötzlich war mir meine Anhänglichkeit peinlich.
Frau Schmidt bemerkte es. Sie hatte immer noch diesen seltsamen Blick. Sie winkte mich an ihr Bett, ich holte mir einen Stuhl und setzte mich. Griff nach ihrer Hand, die klein auf der schweren Krankenhausbettdecke lag. Im selben Augenblick durchfuhr mich ein Schock. Alarmiert ließ ich ihre Hand los und schaute sie an. Sie war genauso erschrocken wie ich, zog hastig die Bettdecke bis zum Hals und steckte beide Hände darunter. Sie murmelte so etwas wie: „Mir ist kalt.“
Es war nicht kalt. Natürlich nicht. Es war Hochsommer.
Unsere Hände hatten sich bei der kurzen Berührung sofort