Ich schwebte auf ihn zu und umarmte ihn.
Er stieß erleichtert die Luft aus. „Wie machst du das? Ich kann nichts Besonderes spüren!“
„Wie jetzt?“, fragte ich, „du spürst nichts Besonderes, wenn ich dich umarme?“
„Ach Elli“, maulte er, „jetzt komm mal wieder runter. Du führst mir hier die absolute Sensation vor und machst dich nur über mich lustig.“
Ich ließ mich bis fast auf den Boden fallen. „Ist das runter genug?“ Herrje, ich war wirklich total daneben. Daran konnte ich schon merken, wie angespannt ich eigentlich war, obwohl er so gut reagierte. „Erstens kommt die absolute Sensation noch“, ich dachte daran, mich mit ihm zu verbinden und ihn mit in die Luft zu nehmen, „und zweitens sei mal nicht so streng, es ist schließlich mein allererstes Comingout.“
„Nee, oder? Außer mir weiß es niemand?“ Julien staunte.
„Meine Großmutter und meine Eltern. Meine Schwester wusste es, als sie ganz klein war, aber sie hat es vergessen.“
„Wow“, sagte er, „und ich dachte immer, ich wäre das arme Schwein von uns beiden.“
Wir liefen den Waldweg entlang.
„Erklärst du mir, wie du es machst?“ fragte er.
Ich zuckte die Achseln. „Ich mache mich leicht.“
„Und wie geht das, dich leicht machen?“
„Ich ändere meinen Zustand.“ Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, ihm wenigstens eine vage Vorstellung davon zu geben. Ein paar Baumstämme am Rand des Weges brachten mich auf eine Idee, die vielleicht funktionieren könnte. Den Versuch war es wert.
„Stell dich mal da auf den Baumstamm und spring runter“, sagte ich. „Du musst besonders auf den Moment achten, in dem du dich entschließt zu springen, aber noch keine Bewegung machst.“
Für den Revolverhelden, den er gestern gegeben hatte, kletterte er ein bisschen zu umständlich auf den Baum. Er sprang, nachdem er einen Augenblick innegehalten hatte.
„Und?“ fragte ich.
„Hmm, als ich daran dachte zu springen, habe ich gleichzeitig geschaut, wo ich ungefähr aufkommen würde, und dann habe ich gehofft, dass ich es auch schaffe.“
„Und dann?“
„Dann bin ich gesprungen.“
Okay, das hatte noch nicht geklappt. „Es geht mehr um das, was im Körper passiert als im Kopf. Du musst es nochmal machen.“
„Warum hast du das nicht gleich gesagt“, murrte er, als er noch einmal auf den Baumstamm stieg.
„Diesmal schaffst du es“, ermunterte ich ihn.
„Warte, bis ich wieder unten bin, du freches Gör!“
„Ich kann auch zu dir raufkommen“, grinste ich und beamte mich direkt neben ihn. Hatte mich doch nicht beherrschen können.
Julien verlor fast das Gleichgewicht, weil er nicht damit gerechnet hatte. „Elli!“
„‘tschuldigung. Ich benehme mich jetzt.“ Ich sauste wieder nach unten.
Julien sprang kurz danach. „Mein Körper hat sich bereit gemacht.“ Erwartungsvoll schaute er mich an. Das klang schon besser.
„Wie hat er sich bereit gemacht?“
„Er hat sich sozusagen darauf eingestellt, die Bewegungen zu machen, die ihn durch die Luft bis zum Ziel fliegen lassen.“
„Ja, das kommt ungefähr hin. Das, was du ,bereitmachen‘ nennst, das mache ich auch, bevor ich schwebe.“
„Aber warum kannst du dann oben bleiben und ich nicht?“
„Keine Ahnung, ich habe bis jetzt noch niemanden getroffen, der es mir erklären wollte.“
Es sollte lässig klingen, doch in Wirklichkeit war ich traurig darüber. Ich sehnte mich so sehr danach, Gleichgesinnte zu treffen, etwas über mich und meine Herkunft zu erfahren.
„Und wie funktioniert das Fliegen?“, fragte Julien und riss mich aus meinen trüben Gedanken.
„Das ist eigentlich dasselbe wie schweben, nur schneller.“
„Aber wie kommst du vorwärts in der Luft? Du flatterst ja nicht mit den Armen wie ein Vogel. Ich sehe überhaupt nicht, dass du dich bewegst.“
„Naja, ich bewege mich schon. Nur innerlich halt. Ich gehe in die Bereitschaft für eine bestimmte Bewegung, und mein Körper nimmt diesen Impuls auf, als würden sich die Muskeln bewegen. Er begibt sich dahin, wo ich ihn hinschicke. Wenn ich geradeaus oder hoch oder runter will, dann schwebe ich geradeaus oder hoch oder runter. Wenn ich schneller sein will, dann werde ich schneller.“
„Denkst du das dann, oder wie funktioniert es?“
„Nein, es ist genauso, wie wenn man läuft. Man denkt ja nicht: ‚Ich laufe geradeaus‘. Man tut es einfach.“ Wir setzten uns wieder in Bewegung.
„Hast du das gelernt oder konntest du es schon immer?“, fragte Julien.
„Wahrscheinlich habe ich die Anlage schon von Geburt an. Aber zum ersten Mal geflogen bin ich erst an meinem dritten Geburtstag.“
„Erzählst du es mir?“
Ich nickte. „Meine Großmutter hatte einen Spaziergang im Wald vorgeschlagen. Wir kamen auf eine Lichtung und Großmutter tollte mit mir herum. Mitten im Spiel nahm sie mich auf den Arm und warf mich in die Luft. In meinem Kopf hörte ich ihre Stimme: Flieg Ellischatz, aber da flog ich schon. Es ging ganz automatisch. Und es machte einen Riesenspaß. Großmutter behielt mich die ganze Zeit im Auge, ich hörte immer ihre Stimme im Kopf, die mir sagte, wo ich hinfliegen sollte. Ich war sehr lange in der Luft, wollte gar nicht mehr runterkommen. Bis ich bemerkte, dass Großmutter und meine Eltern stritten. Ich wusste nicht, worum es ging, doch als ich in ihre Arme flog, merkte ich, dass Großmutter traurig war. Es gab eine neue Verbindung zwischen ihr und mir, sehr intensiv.“ So wie heute Morgen mit Frau Schmidt, dachte ich.
„Ich konnte fühlen, dass es um mich gegangen war. Als sich Großmutter zu Hause von mir verabschiedete, sagte sie: Ellischatz, ich bin jetzt eine Weile weg. Ich habe dich immer in meinem Herzen, auch wenn du mich nicht hörst. Lass dir von niemandem das Fliegen verbieten. Seitdem habe ich sie nicht mehr wiedergesehen.“
Ich schwieg. Obwohl ich noch so klein gewesen war, hatte ich ihre Worte niemals vergessen. Jeden Tag hatte ich sie mir vorgesagt. Und war unermesslich traurig gewesen, dass sie nicht mehr kam. Immer und immer wieder hatte ich meine Eltern nach ihr gefragt, aber keine Antwort bekommen. „Sie ist in ein anderes Land gegangen“, war die einzige Auskunft meines Vaters. Ich konnte nicht verstehen, dass sie mich verlassen hatte. Als ich älter wurde, versuchte ich, mir ihr Verschwinden mit den verschiedensten Theorien zu erklären. Zuerst mit der Geschichte einer verzauberten Königstochter, später machte ich sie zur Agentin in geheimer Mission und einem Wesen von einem anderen Stern. Meine letzte Figur – an der ich heimlich noch immer festhielt – war Mitglied eines fast vergessenen, uralten Volks. Alle Theorien endeten damit, dass sie zurückkommen würde, um mich zu sich zu holen. Bis jetzt war sie nicht gekommen.
„Erzähl weiter“, forderte Julien mich auf, „ich will alles wissen. Es ist zu spannend.“
„Ich machte nichts anderes mehr als fliegen und nach meiner Großmutter fragen“, nahm ich den Faden wieder auf. „Im Sommer sollte ich in den Kindergarten gehen, doch meine Mutter meldete mich wieder ab. Sie hatte Angst, ich würde das Fliegen dort nicht lassen. Wenn sie mit mir einkaufen ging, hielt sie mich immer fest an der Hand. Überhaupt nahm sie mich nicht mehr oft mit. Ich durfte auch nicht mehr allein nach draußen zum Spielen. Das fand ich zwar blöd, aber da waren meine Eltern eisern. So flog ich halt in meinem Zimmer herum und führte meiner kleinen Schwester Kunststückchen vor. Sie war damals ein Jahr alt und schaute mir immerfort