Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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Sehr deutlich hörte ich den Widerspruch in mir, mit dem ich Juliens Gekeife abschmettern wollte. Doch langsam dämmerte mir auch, was ich getan hatte. Genau das, was ich sonst immer verurteilte. Wow. Wo waren meine Überzeugungen geblieben? Zum Beispiel, dass jeder Mensch das Recht auf körperliche Unversehrtheit hatte? Seit ich angefangen hatte, mich mit Politik zu beschäftigen, war ich immer froh darüber gewesen, in einem Land zu leben, in dem diese Grundsätze eine Rolle spielten. Und jetzt – hatte ich sie bei der ersten Gelegenheit über den Haufen geworfen! Gut, der Quadratschädel hatte mich angegriffen, aber ich hätte mich auch befreien können, ohne ihn zu verletzen. Und ich war bereit gewesen, die beiden bewusstlos zu schlagen. Das war Selbstjustiz. Selbstgerechtigkeit!

      Unterdessen hatte sich Juliens Lautstärke erheblich gesteigert, er brüllte ohne Punkt und Komma auf mich ein. Allzu viel bekam ich nicht mit. Ich war so geschockt von der Erkenntnis, wie radikal ich gewesen war – man musste es schon „brutal“ nennen – dass sich in meinem Kopf alles zu drehen begann. Ich hörte nur noch so etwas wie: „… wohl zu viel schlechte Krimis gesehen!“, dann musste ich mich auf den Boden setzen. Meine Ohren klingelten und mir war schlecht. Ich starrte auf die Erde und versuchte, auf die Reihe zu kriegen, wie das vorhin abgelaufen war, als ich mit den Typen gekämpft hatte. Was hatte ich gedacht, was gefühlt? Erinnere dich, Elli … Das Bild von Frau Schmidt auf dem Boden, mein Entsetzen darüber tauchte auf – und da war sie wieder, die Wut! Sie stieg rasend schnell in mir auf und blieb dicht unter der Schädeldecke hängen, ich konnte kaum noch klar denken. Ruhig, Elli, ruhig, du hast deine Rache gehabt, es ist vorbei, du musst dich nur noch erinnern!

      Genau …! Rache – ich hatte diesen Dreckskerlen Schmerz zufügen wollen für das, was sie Frau Schmidt angetan hatten, für den Schreck, den sie mir eingejagt hatten, dafür, dass sie meine ohnehin nicht sehr heile Welt ganz aus den Angeln gehoben hatten! Es war gewesen, als hätten sich all meine Zellen mit heißem, rotem, brodelndem Nebel gefüllt, bis in die Augenhöhlen, nur das Gehirn war kalt geblieben. Ich hatte sehr klar und sehr taktisch gedacht in dem Moment, in dem ich den Quadratschädel verletzen wollte. Das scheußliche Geräusch des kaputtgehenden Arms hatte ich mit einer kleinen Befriedigung zur Kenntnis genommen. Weiter hatte ich nicht gehen wollen, aber war nicht das schon viel zu weit? Und was wäre passiert, wenn ich den Schlagstock hätte benutzen müssen? Ich hätte zugeschlagen, keine Frage. War ich zum Monster mutiert? Oder schon immer eins gewesen?

      Ich entdeckte eine Seite an mir, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, jedenfalls nicht in diesem Extrem. Es erschütterte mich zutiefst, dass ich auch jetzt noch keine Reue den Mistkerlen gegenüber fühlte, nur darüber, dass ich etwas verraten hatte, was mir ganz selbstverständlich als mein ureigenster Wert erschienen war. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte nichts mehr denken, meine Brust war sehr eng, als würde sie zusammengedrückt, und tiefe Schluchzer stiegen in mir auf. Ich wurde regelrecht geschüttelt von ihnen, bis Julien mich an den Schultern packte und nach oben zog. Auch er schüttelte mich, aber sehr sachte, und rief wie aus weiter Entfernung meinen Namen.

      „Elli …! Elli, beruhige dich, hör auf, komm schon …!“ Er zog mich an seine Brust und hielt mich fest. Eine Ewigkeit. Ich spürte seine Arme um mich, seine Wärme, hörte seine Stimme jetzt deutlicher, wie sie irgendwelche beruhigenden Laute murmelte. Nahm die Bewegung seines Atems in seiner Brust wahr, und dann nahm ich meinen eigenen Atem wahr und wurde tatsächlich ruhig.

      Ich weinte nicht mehr. Hielt die Augen geschlossen und ließ meinen Kopf einfach auf seiner Brust liegen. Sanft schob er mich ein Stück von sich weg, um mir ins Gesicht zu schauen, und sagte leise und schnell: „Die Verstärkung und der Krankenwagen sind in ein paar Minuten da. Du musst dich wieder hinkriegen, sonst nehmen sie dich auch gleich mit.“

      Erschrocken schaute ich ihn an.

      „Die Sanitäter, meine ich, nicht die Kollegen.“

      „Es tut mir so leid, Julien, ich weiß nicht –“

      Er unterbrach mich.

      „Wir reden später darüber, jetzt müssen wir dich erst mal zurechtmachen und absprechen, was wir über den Hergang sagen.“

      Mein Gehirn arbeitete immer noch verlangsamt, ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte.

      „Naja, wir können schließlich nicht sagen, dass du hinter ihrem Wagen hergeflogen bist. Also: Wir haben sie verfolgt und aufgeholt, ich habe in die Reifen geschossen, dann sind sie in den Wald gerast. Mehr ist nicht passiert.“

      „Aber die beiden werden –“

      „Gar nichts werden die. Die werden sich hüten, davon zu reden. Das würde doch nie jemand glauben. Die würden sich total lächerlich machen, und die Kollegen würden ziemlich sauer reagieren. Aber“, er schaute mir sehr ernst in die Augen, „du weißt schon, dass du dir Feinde für den Rest deines Lebens gemacht hast. Feinde, die etwas von dir wissen, was sie besser nicht gewusst hätten.“

      Ich nickte stumm. War total niedergeschlagen. Am liebsten hätte ich mich irgendwohin verkrochen und noch ein bisschen geheult. Doch von ferne waren schon die Sirenen zu hören.

      „Wir müssen dich jetzt wieder herrichten“, sagte Julien und fing an, meine Klamotten zurechtzurücken.

      Ich schaute an mir herunter. Oh weh, ich war von dem Kampf total dreckig. Wir wischten und klopften zu zweit an mir herum, ich versuchte, mir mit den Fingern die Haare zu kämmen und rieb mit den Händen mein Gesicht ab.

      Julien betrachtete mich kurz und nickte. „So gehts“, meinte er, keinen Moment zu früh. Drei Fahrzeuge hielten, die Insassen stürzten an den Unfallort. Dann war vom Unfallwagen her ein Geräusch zu hören. Julien hatte sofort die Pistole im Anschlag, er raunte mir zu: „Zieh dich mal ein bisschen zurück, vielleicht haben die dich nicht gut gesehen im Dunkeln“, und rannte zum Wagen hinüber.

      Der Quadratschädel regte sich und hob den Kopf. Ich verschwand zwischen den Bäumen und beobachtete das weitere Geschehen von dort aus. Zwei Polizisten liefen zusammen mit den Sanitätern zu den Verletzten, zwei andere begannen mit der Untersuchung des Unfallortes. Die Verbrecher wurden in den Krankenwagen bugsiert. Während der Quadratschädel sich widerwillig zwischen den Sanitätern bewegte, sah er sich immerfort um. Es schien, als würde er tatsächlich nach mir suchen. Der Kahlkopf war noch immer bewusstlos.

      Als die Gefangenen verstaut waren, sprachen die beiden Polizisten mit Julien. Sie notierten seine Aussage. Er zeigte auf mich und ich trat zwischen den Bäumen hervor, achtete darauf, dass ich vom Krankenwagen aus nicht gesehen werden konnte. Julien beruhigte mich, als ich neben ihm stand. „Er liegt“, flüsterte er kurz, „er kann dich unmöglich sehen.“

      Ich atmete auf. Einer seiner Kollegen nahm meine Personalien auf und befragte mich zum Tathergang. Ich wunderte mich, dass er sich nicht wunderte, was ich hier machte. Julien musste bereits eine gute Begründung geliefert haben. Also antwortete ich so unpräzise wie möglich, um ihm nicht ins Handwerk zu pfuschen. Der Kollege gab sich zufrieden, anscheinend genügte ihm die Aussage von Julien. Der war schließlich ein Vorgesetzter. Ein paar Minuten später konnten wir gehen. Julien nahm mich am Arm.

      „Auf ins Krankenhaus“, sagte er, sprang in seinen Wagen und fuhr los, kaum, dass ich die Beifahrertür geschlossen hatte. Es sah so aus, als wollte er so schnell wie möglich vom Unfallort wegkommen. Als ich ihn fragend ansah, nickte er.

      „Der, der wach geworden ist, kommt mir verdammt bekannt vor. Ich will noch in die Kartei gehen, den habe ich irgendwie unter ,gefährlich‘ abgespeichert.“

      Ich wäre gern mit aufs Revier gekommen, um mir mit Julien die Kartei anzusehen, doch er lehnte ab. „Übertreib’s nicht, Elli. Ich glaube, es reicht für heute.“

      „Wieso? Ich könnte dir helfen, ihn zu identifizieren.“

      „Das krieg ich schon noch allein hin.“ Damit war die Diskussion beendet. Ich kannte Julien lange genug, um zu wissen, wann ich aufhören musste. Vermutlich reichte es ihm selbst auch – mit mir.

      Im Krankenhaus konnten wir nur die Nachtschwester sprechen, die Patienten schliefen alle, klar. Frau Schmidt lag nicht mehr auf der Intensivstation, das beruhigte mich. Die Nachtschwester war