Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
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Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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drehte mich um und stürzte mich in die Felsspalte. Die Dunkelheit beunruhigte mich nicht mehr, es war, als würde ich den Weg seit Ewigkeiten kennen. Alles war wieder da, der Geruch, die Empfindung der Luft, die Temperatur, die Geräusche. Das hatte Großmutter mit dem roten Faden gemeint, als ich sie nach der Strecke hierher gefragt hatte. Der Weg lag so sicher vor mir, als hätte ich eine topografische Karte im Gehirn.

      Komisch, dass ich diese Fähigkeit nie bemerkt hatte. Nein, nicht komisch. Zu Hause flog ich doch immer die gleichen Strecken in einer Umgebung, die ich kannte wie meine Westentasche. Tatsächlich war ich das erste Mal in meinem Leben weg von zu Hause. Irre. Besonders, wenn man sich überlegte, wer ich war. Angehörige eines fliegenden Volkes. Eines reisenden Volkes, das keine Grenzen kannte. Und ich hatte Deutschland noch nie verlassen, mit Mühe vielleicht das Bundesland. Danke, liebe Eltern!

      Wir waren nie in Urlaub gefahren. Aus heutiger Sicht konnte ich es verstehen, doch damals hatte ich mich immer gefragt, warum wir als einzige Familie in den Sommerferien zu Hause blieben. Hatte die anderen Kinder um jeden noch so nahen Urlaubsort beneidet. Bei Schulfreizeiten hatte ich auch nicht mitfahren dürfen. Meine Eltern hatten Angst gehabt, ich würde mich verraten. Den anderen Kindern gegenüber hatte ich mir abenteuerliche Geschichten einfallen lassen, weshalb ich nicht mitkonnte. Meistens hatte ich erzählt, ich würde meinen Vater auf eine Geschäftsreise ins Ausland begleiten. Wenn ich dann zu Hause gesessen und darauf gewartet hatte, dass die anderen zurückkamen, hatte ich mir alle Einzelheiten meines Auslandsaufenthaltes ausgedacht, für den Fall, dass jemand fragen würde, und weil ich so das Gefühl erzeugen konnte, wirklich weggewesen zu sein.

      Für den Rückweg brauchte ich höchstens die Hälfte der Zeit. Vorsichtig lugte ich aus der Spalte, um die Umgebung abzusuchen. Der Anblick war überwältigend. Ich hatte das Gefühl, ich könnte halb Frankreich überblicken, so weit konnte ich schauen. Egal, wie müde ich war – das hier musste ich genießen. Ich blieb einfach sitzen und saugte die Landschaft in mich ein. Das ausgeblichene Grün der Wiesen und Bäume wirkte wie ein Stärkungsmittel. Die Weite ließ mein Herz schneller schlagen. Ich wünschte so sehr, ich könnte mich hineinstürzen und den ganzen Himmel befliegen. Warum mussten wir uns immer verstecken! Hoch über dieser wunderschönen Landschaft im Sonnenlicht – das wäre das Größte!

      Links von mir, fast am Horizont, entdeckte ich eine Baumlinie – wenn ich Glück hatte, ein Bach, mit Pech nur eine Straße. Ortschaften gab es weit und breit nicht, auch sonst waren keine menschlichen Spuren zu sehen. Trotzdem flog ich dicht über dem Boden, als ich mich auf den Weg machte, und hatte immer das nächste Versteck im Blick. Flog nicht ganz so schnell wie mit Großmutter, es gab zu viele Hindernisse und ich war wirklich erschöpft. Das Glück war mir hold. Die Bäume standen entlang eines kleinen Flüsschens. Der Abend dämmerte, es gab Schnaken ohne Ende, doch das störte mich jetzt auch nicht mehr. Nachdem ich mich ein letztes Mal vergewissert hatte, dass ich mutterseelenallein war, schlüpfte ich aus den Klamotten und warf mich in die Fluten. Das Wasser war sehr kalt, aber klar, und ich trank, bis mir der Magen wehtat. Dann schrubbte ich mir mit einem zerfaserten Ästchen die Zähne, so gut es ging, säuberte den Rucksack und wusch meine Sachen, alle, auch den Fluganzug, den ich angehabt hatte. Er war aus diesem atmungsaktiven Material für Sportler und es war warm genug, er konnte auch auf der Haut trocknen.

      Jetzt brauchte ich nur noch einen Platz zum Schlafen. Vom höchsten Baum aus suchte ich die Gegend nach einer passenden Stelle ab, solange es noch hell genug war. Die Wildnis um mich herum bestand hauptsächlich aus mageren Wiesen mit ein paar Sträuchern hier und da. Etwas weiter vom Flüsschen entfernt standen mehrere kleine Bäume zusammen, sah nach der einzigen Möglichkeit aus. Ich kreiste um die Bäume, begutachtete sie von allen Seiten – und hatte keine Idee. Es gab nichts, was ich als Schutz hätte bezeichnen können. Ich hätte gern oben geschlafen, in einem der Bäume, doch sie waren einfach zu klein, kein breiter Ast, auf den ich mich hätte legen können. Unter den Bäumen gab es nur Wiese, kein Gebüsch, nichts, was mich ein bisschen getarnt hätte. Müde setzte ich mich ins Gras. Die Vorstellung, einfach so auf dem Boden zu schlafen, ohne etwas drunter oder drüber, war nicht gerade verlockend. Ich wusste nicht, ob es hier größere Tiere gab und wenn ja, welche, und wie sie es finden würden, auf eine schlafende Lintu zu treffen. Allerdings war mir auch klar, dass Tiere sich kaum von irgendwelchem Gestrüpp über mir täuschen lassen würden. Während ich Gedanken dieser Art wälzte, fielen mir immer wieder die Augen zu. Schließlich ergab ich mich, breitete meine Klamotten zum Trocknen auf dem Boden aus und legte mich nieder. Die Erde war noch warm. Gras und Kräuter verströmten sonnendurchflutetes Aroma. Um mich herum trieben die Insekten ihr emsiges Geschäft. Ich blickte in die unendliche Weite des Himmels mit seinen ungezählten Sternen und wurde dann doch vollkommen ruhig.

      Ich erwachte, weil mir heiß war. Das bedeutete, es war Tag und ich war weder auf- noch angefressen worden. Um mich herum zirpten Legionen von Grillen. Der Lärm, den sie erzeugten, rief die Erinnerung an die Vögel im Valle wach. Großmutter. Ich war allein. Bevor ich in Trübsinn verfallen konnte, sprang ich auf, klaubte meine Siebensachen zusammen und wechselte die Klamotten. Zwar hatte ich vor, noch ein Stück zu fliegen, doch es war definitiv zu heiß für eine doppelte Kleiderlage, und ich wollte für alle Fälle die Straßenkleidung schon anhaben. Die Blutflecken waren nicht rausgegangen ohne Seife, aber immerhin waren sie heller geworden und sahen jetzt nur noch bräunlich aus, konnten auch Erdflecken sein. Ich flog Richtung Valle zurück, um die Route nach Hause zu erwischen. War gespannt, wie mein neuentdecktes Orientierungssystem sie finden würde. Es war unerwartet einfach. Als ich in die Nähe der Route kam, erkannte ich die Umgebung wieder und musste nur noch einbiegen. Das hatte ich mir spektakulärer vorgestellt.

      Im nächsten Ort, auf den ich stoßen würde, wollte ich etwas zu essen kaufen und warten, bis es dunkel wurde. Und die Tagebücher zu Ende lesen. Wenn ich nach Hause kam, würde ich wahrscheinlich keine Zeit mehr dafür haben.

      In dieser menschenleeren Gegend eine Ansiedlung zu finden, war gar nicht so leicht. Meine Route lag außerhalb jeglicher Reichweite von Straßen. Ich musste mehrere hohe Bäume anfliegen, bis ich in ziemlicher Entfernung etwas ausfindig machte, das wie ein Dorf aussah. Den letzten Kilometer legte ich sicherheitshalber aufrecht, knapp über dem Boden schwebend, zurück. Wenn mich jemand so gesehen hätte, hätte das schon Fragen aufwerfen können, denn ich sparte nicht an Geschwindigkeit. Es sah mich aber keiner, besser gesagt, ich sah niemanden. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Kein Wunder, bei der Hitze. Es hatte einen winzigen Marktplatz mit einer Art Bar und einer Bäckerei. Soweit ich gehört hatte, brauchte man in Frankreich nicht mehr. Zwei Croissants aus der Bäckerei, ein Café au Lait in der Bar und fertig war das absolute Glücksgefühl. Zumindest für eine kleine Weile.

      Die Bar war schummerig und wunderbar kühl. Es gab keine weiteren Gäste. Das gefiel mir und ich beschloss, erst einmal hier zu bleiben. Der Patron hinter dem Tresen nickte mir freundlich zu. Seine Anwesenheit würde helfen, mich zusammenzunehmen, wenn ich die Tagebücher weiterlas. Das brauchte ich jetzt. Ich balancierte immer noch so nah am Abgrund, dass ich mir keine Nachlässigkeit erlauben konnte. Großmutter gehen zu lassen, fiel mir viel schwerer, als ich es mir gewünscht hätte. Gestern war sie gestorben – oder war es vorgestern gewesen? – und ich war noch so traurig, als wäre es gerade erst geschehen … War ich denn ganz bescheuert? Was erwartete ich eigentlich, wie schnell so was gehen würde? Vielleicht sollte ich mal eine Weile nicht mehr nachdenken, im Moment kam doch nur Blödsinn dabei heraus.

      Ich suchte im Rucksack nach den Tagebüchern. Plötzlich hatte ich mein Handy in der Hand. Wow, in den Tagen unterwegs hatte ich nicht einmal daran gedacht. Natürlich war es aus. Ließ sich auch nicht anschalten. Es störte mich nicht. Ich wollte sowieso mit niemandem sprechen. Ich fand das zweite Tagebuch. Dummerweise hatte ich mir ja den schrecklichen Teil für später aufgehoben. Jetzt war später. Eindeutig nicht besser geeignet als die Nacht, in der ich mit dem Lesen angefangen hatte. Es blieb mir nichts übrig, als mich auf den Patron zu verlassen. Ich schlug das Buch auf und machte mich an die Arbeit.

      Ich las das zweite Buch fertig, danach das dritte. Bestellte Wasser, noch ein Wasser, Café au Lait, noch ein Wasser und noch eins. Dann war ich durch. Und endgültig sicher, dass ich hochsensible Daten zu bewachen hatte. Großmutter hatte im letzten Teil des dritten Buches alles notiert, was sie über ihre Gegner im Francoregime und über die Mitglieder der Kameradschaft