TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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den Kopf wieder hereinsteckte, hatte Neolyt nur einen Teller und eine versehentlich gläserne Feder zu Bruch geflogen. Sie packte die Sachen in die Kiste und Deor stellte diese in den Schrank zurück. Gemeinsam mit Yewan gingen sie zum Speiseraum.

      „Warst du wirklich schon fertig, als du Deor gerufen hast?“

      „Wann war das denn?“

      „Auf jeden Fall keine Stunde, nachdem du angefangen hattest.“

      „Kann sein.“

      „Irre!“ Yewan grinste von einem Ohr zum andern. „Sollte ’ne Weile her sein, dass das passiert ist. Ich hab ganze anderthalb Stunden gebraucht, bis das Mistvieh endlich das gemacht hat, was es sollte.“

      „Das ist doch nicht viel mehr.“

      „Über eine halbe Stunde. Und dabei war ich zwei Jahre älter als du jetzt.“

      „Ja schon, aber …“

      „So etwas braucht einem nicht peinlich zu sein. Es hat noch nie jemandem geschadet, schlauer zu sein als andere.“

      „Aber das hat doch nichts mit Wissen zu tun.“

      „Richtig, das ist Intuition, also so etwas wie angeborene Intelligenz.“

      Neolyt wurde rot und war froh, dass ihr der Lärm des Speiseraums eine Antwort ersparte. Sie nahm sich einen Teller voll langer, dünner, gelber Fäden mit roter Soße und setzte sich zu Elly, die bereits mit einer komplizierten Technik ihre Fäden aß.

      „Hey, Nel, wie war die Feder?“, fragte sie gut gelaunt, ohne von den Fäden aufzusehen.

      „Ging.“

      „Wie lang hast du gebraucht?“

      „Eine Stunde, ungefähr“, meinte Neolyt und es war ihr wieder peinlich, weil Elly darauf antwortete: „Ging? Das ist absolute Spitze! Ich weiß, dass der Durchschnitt für Hochpotenzialisten bei einer Stunde und sechsunddreißig Minuten liegt. So gut wie du will ich auch zaubern können. Es hat zwei Stunden gedauert, bis meine Feder flog.“

      „Was ist das eigentlich?“, fragte Neolyt, um das Thema zu wechseln, und sah skeptisch auf die Fäden.

      „Nudeln. Schmeckt ganz gut, aber irgendwann hat man die Nase voll davon.“

      „Die Nase?“

      Elly gluckste. „Das ist umgangssprachlich und meint, dass du Nudeln nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr essen magst.“

      „Aha, verstehe“, sagte Neolyt, obwohl sie sich da nicht so sicher war.

      Elly erklärte ihr, wie man mit Tischmanieren Nudeln aß und wie es ohne sie viel mehr Spaß machte.

      Am Nachmittag unterrichtete Deas sie wieder im Lesen und Schreiben. Es ging quälend langsam voran, auch wenn der Bibliothekar meinte, sie würde schnell Fortschritte machen.

      Nachdem sie sechs Wochen lang jeden Tag geübt hatte, beherrschte sie das Alphabet endlich gut genug, um mit Büchern zu arbeiten und Aufsätze schreiben zu können. Auch im Magieunterricht strengte sie sich an und kam dementsprechend schnell voran. Sie liebte alles, was direkt mit Magie und deren Gebrauch zu tun hatte, auch wenn der theoretische Unterricht teilweise etwas trocken war.

      Erst nach zwei Monaten bekam sie einige neue Lieblingsfächer dazu. An einem Montagmorgen lag auf ihrem Schreibtisch ein Zettel, der ihr mitteilte, dass sie sich vier Stunden vor Mittag in der Kampfhalle einzufinden hatte. Entsprechende Kleidung läge in ihrem Schrank bereit.

      Während des Frühstücks war sie so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen hinunter bekam. So schnell sie konnte, eilte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie auf Elbea traf.

      „Erstes Kampftraining?“, fragte sie knapp, ohne aufzublicken.

      „Ja“, erwiderte Neolyt, ebenso kurzgefasst, wie sie es sich ihrer Mitbewohnerin gegenüber angewohnt hatte. Hastig schlüpfte sie in die Leinenhose und das feste Hemd aus ihrem Schrank, band den Gürtel zu und zog die leichten Lederstiefel an, die wie angegossen saßen. Seit Wochen hatte sie sich kaum anders bewegt, als zwischen den einzelnen Räumen hin und her, endlich würde sie wieder laufen, springen, reagieren können.

      Sie war nicht die Erste, als sie vor der Halle ankam. Dort wartete bereits eine kleine Schar Schüler, die sich aufgeregt miteinander unterhielt. Neolyt blieb am Rand der Gruppe stehen. Noch immer fühlte sie sich unwohl zwischen den Schülern, zumal weder Elly noch Yewan hier waren und alle deutlich älter und größer waren als sie.

      Endlich wurde die Tür geöffnet und die Schüler verstummten. Eine junge Frau stand dort, die Hände in die Hüften gestemmt, und betrachtete sie lächelnd. Neolyt hatte noch nie jemanden mit so dunkler Haut gesehen, aber wahrscheinlich war es bei den Menschen wie bei den Wölfen, manche hatten eben dunkles Fell und andere helles.

      „Ravela, ich bin Wadne, es freut mich, euch zu eurer ersten Trainingsstunde begrüßen zu dürfen. Wie ihr sicher schon von den älteren Schülern wisst, werde ich euch erst einmal in den Grundtechniken des einfachen Schwertkampfes und des waffenlosen Kampfes unterrichten. Wer das absolviert hat, kann seine weiterführenden Fächer wählen oder ganz aussteigen.“

      Hinter sich hörte Neolyt einen erleichterten Seufzer und drehte sich um. Der schmale Junge mit der großen Brille sah etwas verloren in den derben Kampfkleidern aus.

      „Dann kommt mal rein“, forderte Wadne sie auf und trat beiseite. Die meisten stürmten sofort hinein, doch Neolyt und der Junge hielten sich zurück. Sie mochte es nicht, mitten zwischen Menschen zu stehen, fühlte sich trotz der zwei Monate, die sie nun schon unter ihnen verbracht hatte, von ihnen bedroht.

      Jede Menge merkwürdiger Gerüste und Aufbauten standen in einem durch Seile abgetrennten Bereich der riesigen Halle. Neolyt beäugte sie neugierig, doch Wadne belehrte sie, kaum dass sich alle bei ihr in der Mitte ihres mit Sand ausgestreuten Bereiches eingefunden hatten, dass es ihnen strengstens verboten sei, die Halle ohne Aufsicht eines Lehrers zu betreten, und dass sie als Anfänger auch keinen Zutritt zu den Parcours für die älteren Schüler hätten.

      „Ihr lauft euch erst einmal ein paar Runden zur Erwärmung ein, dann dehnen wir uns und fangen an. Weiß jemand, warum die Erwärmung wichtig ist?“

      Ein paar Schüler meldeten sich.

      „Damit wir keinen Muskelkater kriegen“, erklärte ein Junge mit Sommersprossen selbstsicher.

      „Tja, wenn’s so einfach wäre.“ Wadne lächelte. „Ich kann euch garantieren, dass ihr euch spätestens heute Nachmittag kaum noch bewegen werden könnt. Mit solchen Aufwärmungen verringern wir die Gefahr einer Zerrung oder Schlimmeres. Deswegen bitte ich euch, das sehr ernst zu nehmen, schließlich will wohl kaum jemand von euch die Trainingsstunden verpassen, oder?“ Sie zwinkerte ihnen zu.

      Neolyt sah wieder zu dem Jungen mit der Brille und war sich ziemlich sicher, dass er fast alles tun würde, um sämtliches Training zu versäumen.

      Nachdem sie einige Runden gerannt waren und sich mit verschiedenen Übungen gedehnt hatten, verteilte Wadne an jeden einen Holzdolch und stellte sie im Block auf.

      „Immer wenn wir eine neue Technik lernen, nehmt ihr diese Aufstellung ein. Es müssten mich alle sehen können.“ Sie stellte sich mit dem Gesicht zu ihnen. „Ich nehme an, dass viele von euch erwartet haben, bereits heute ein Schwert in der Hand zu halten, doch ich muss euch enttäuschen. Ich werde euch erst dann ein Holzschwert geben, wenn ihr ausreichend gut mit dem Dolch umgehen könnt, und bis ihr ein richtiges Schwert bekommt, sollte es noch eine ganze Weile dauern.“ Sie warf den Dolch mit augenscheinlicher Leichtigkeit hoch in die Luft, um ihn wieder aufzufangen, ohne den Blick von ihren Schülern zu wenden. „Es ist wichtig, mit dem Dolch umgehen zu können, da ihr unmöglich ständig ein Schwert mit euch tragen könnt. Er ist klein und doch in der richtigen Hand ebenso gefährlich wie ein Schwert, wenn nicht gar gefährlicher. Außerdem ist es deutlich einfacher, in eng begrenztem Raum mit einem Dolch zu fechten, als ein Langschwert zu verwenden. Selbstverständlich werdet ihr mit einem normalen Dolch nicht viel gegen einen Magier ausrichten