TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
Скачать книгу
und etwas zum Anziehen, falls du mal raus willst, ansonsten ist das Bad ganz hinten im Flur links und wenn du dich umgezogen hast, zeige ich dir den Speisesaal.“ Damit ging sie hinaus und Neolyt hatte endlich ihre Ruhe.

      Schnell schlüpfte sie in die neuen Kleider. Der Stoff fühlte sich weich an auf der Haut. Ihre alten hängte sie ordentlich in den kleinen Schrank neben ihrem Bett. Dann sah sie sich noch einmal um. Hier würde sie also von nun an wohnen. Auf einmal fühlte sie sich einsam und allein, doch schnell verdrängte sie dieses Gefühl und ging hinaus auf den Flur, auf einen erneuten Redeschwall gefasst, der auch prompt eintrat.

      „Ach, das passt dir ja wundervoll und es ist viel bequemer als das, was du vorher getragen hast, nicht wahr? Und viel sauberer natürlich, hattest du dieses Hemd eigentlich jemals gewaschen?“ Abermals redete und erzählte Lora den ganzen Weg über bis zum Speisesaal, den man schon vom anderen Ende des Ganges aus hören konnte.

      „Machen die schon wieder einen Lärm“, bemerkte Lora, nur kurz ihren Redeschwall unterbrechend, dann ging es weiter mit einer Geschichte über den Freund des Mannes einer Cousine zweiten Grades.

      Lora hatte recht gehabt, Lärm war ein sehr passendes Wort für den Zustand des Speisesaals. Löffel schwebten in der Luft, Suppe wurde dem Nachbarn über die neue Hose gekippt und Wasser über das Hemd des anderen. Neolyt hielt einen Teller mit warmer Suppe und einen Löffel in der Hand und sah sich im Raum um. Da sie Yewan nirgendwo entdecken konnte, setzte sie sich schließlich an den Rand einer laut schnatternden Mädchengruppe. Dann sah sie auf den Löffel und auf die Suppe, seufzte und fragte sich, wie um alles in der Welt sie mit dem einen das andere in ihren Mund befördern sollte. Das einzige, was sie in menschlicher Gestalt bisher zu sich genommen hatte, war Brot und Wasser gewesen. Nie aber hatte sie so etwas wie einen Löffel, geschweige denn eine Gabel oder ein Messer benutzen müssen. Einige Minuten saß sie nur da und sah sie sich um, in der Hoffnung, es sich bei den anderen abgucken zu können. Aber es sah zu kompliziert aus, als dass sie es hätte nachvollziehen können.

      „Hey, schmeckt dir deine Suppe nicht?“, fragte auf einmal das Mädchen neben ihr. Sie hatte zwei lange, blonde Zöpfe und ihr neugieriges Gesicht war von Sommersprossen übersäht.

      Neolyt wurde rot. Sicher würden die andere sie aus­lachen, wenn sie zugab, nicht mit einem Löffel umgehen zu können, aber schließlich antwortete sie trotzdem: „Ich weiß nicht genau, ich hab noch gar nicht gekostet.“

      „Warum denn nicht?“

      „Ich … na ja, ich hab vorher noch nie mit einem Löffel gegessen und …“

      Das Mädchen grinste. „Du verarschst mich, oder?“

      „Nein, ehrlich. Ich hatte ja auch nie einen Grund dazu. Bei uns im Rudel wurde immer gejagt und ich glaube, Reh und Wildschwein kann man nicht so gut mit dem Löffel essen.“

      „Bei dir im Rudel? Sag bloß, du bist bei Wölfen aufgewachsen.“ Die Stimme des Mädchens klang ziemlich ungläubig.

      „Doch, natürlich. Ich bin ein Halbwolf.“

      Die Augen der anderen weiteten sich.

      „Ehrlich? Ist ja total irre! Dann ist es ja klar, dass du das nicht kannst. Aber ich kann’s dir zeigen, pass auf.“ Sie nahm ihren Löffel in die Hand und bedeutete Neolyt, es nach­zumachen. Dann lachte sie. „Nein, schau, du musst den Löffel auf den Mittelfinger legen – ja –, den Zeigefinger daneben – genau … – und den Daumen drüber – nein, schau mal, so. Gut. Und jetzt nimmst du so die Suppe drauf und steckst dir alles zusammen in den Mund.“ Aufmerksam beobachtete sie, wie Neolyt sie nachahmte und streckte ihr dann die Hand entgegen. „Ich bin Aely. Aber die meisten nennen mich Elly.“

      Neolyt nickte. „Ich bin Neolyt. Mich hat bis jetzt noch kaum ein Mensch irgendwie genannt.“

      „Darf ich mir einen Spitznamen für dich ausdenken?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Mmh … wie wär’s mit … Neo? Ach nee, das klingt doof. Aber Nel ist gut, oder? Ja, Nel ist ein guter Name. Gefällt er dir auch?“ Neolyt nickte zustimmend, obwohl sie keine Ahnung hatte, wozu ein Spitzname gut war.

      „In welchem Zimmer bist du eigentlich?“

      „Ich glaube, siebzehn.“

      „Oh, das ist ja toll. Dann sind wir im gleichen Zimmer. Bei uns wohnt noch Elbea, sie ist unglaublich hübsch, ich beneide sie so um ihre braunen Locken, aber sie sagt eigentlich nie etwas. Ab dem nächsten Jahr haben wir das Zimmer für uns, sie ist dann nämlich fertig mit der Ausbildung. Du bist ganz neu, oder? Wann bist du angekommen?“

      „Heute Vormittag.“

      „Bei wem hast du Unterricht?“

      „Ich weiß nicht genau. Deor ist mein Mentor und Deas soll mir lesen und schreiben beibringen. Habe ich dann noch andere Lehrer?“

      „Kann sein. Manchmal werden alle Schüler zusammen von Wadne im Schwertkampf unterrichtet.“

      Der Speisesaal leerte sich allmählich und auch Neolyt hatte schließlich ihre Suppe aufgegessen.

      „Danke noch mal“, sagte sie, während sie aufstand, und lächelte Elly zu.

      „Gerne doch. Beim Abendessen können wir mit Messer und Gabel weitermachen.“

      „Wir essen zweimal am Tag?“ Neolyt war verwundert. Im Rudel hatte es allerhöchstens alle zwei Tage etwas gegeben.

      „Dreimal.“ Elly grinste. „Wir sehen uns heute Abend, ja?“ Dann war sie auch schon verschwunden.

      Ein paar Stunden später saß Neolyt in der Bibliothek an einem Tisch neben Deas und malte konzentriert einige Zeichen auf ein Stück Pergament, die schon auf einem anderen standen, dort aber viel ebenmäßiger aussahen.

      „Gut, Neolyt, und jetzt lies sie mir bitte noch einmal vor.“

      Sie seufzte, das ging nun schon seit Stunden so.

      „M, Q, W, E, N, R, B, T, V, Z, C, U, X, O, L, P, I, K, A, J, S, H, D, G, F und … Ypson.“

      „Ypsilon.“

      „Mein ich ja. Ypsilon.“ Sie lehnte sich zurück. Das war anstrengender, als sie gedacht hätte.

      Etwas weiter hinten saß Deor, in ein Buch vertieft. Neolyt sah ihn neidisch an, sie würde auch gerne so gut lesen können wie er, dann wären diese ganzen Übungen ein Klacks für sie.

      „Dann machen wir jetzt weiter mit …“ Deas griff weit über den Tisch und stieß dabei mit dem Arm gegen die Lampe mit dem Flammengeist, die zu Bruch ging und ihren Inhalt auf Neolyts Übungspergament kippte. Kleine, züngelnde Flammen tanzten über das Papier. Ohne zu zögern, geschweige denn nachzudenken, erstickte Neolyt sie mit der bloßen Hand, und als sie sie zurückzog, war es, als wäre das Feuer nie dagewesen. Auch ihre Handfläche und Finger wiesen keinerlei Verletzung auf.

      Ein überraschter Ausruf kam von Deas, dann wandte er sich zu Deor um. „Du hättest mich ruhig vorher warnen können, dass sie über Feuerkräfte verfügt.“

      „Was?“, fragte Deor, aus den Untiefen des Buches gerissen.

      „Du hast sie noch nicht geprüft, stimmt’s?“ Deas seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich hätte mich beinahe zu Tode erschreckt, als sie ihre Hand aufs Feuer gelegt hat.“

      „Feuer also. Na dann kann ich mir die Prozedur ja sparen.“ Und Deor versank wieder in seinem Buch.

      Deas schüttelte abermals den Kopf, dann setzten sie den Unterricht fort.

      Am Abend war Neolyt so gerädert und in ihrem Kopf schwirrten die Buchstaben und Wörter so wild durch­einander, dass sie sich kaum darüber wunderte, dass irgendein Schwachkopf das Fleisch einfach angebraten hatte. Geduldig lernte sie von Elly den Gebrauch von Messer und Gabel.

      Irgendwann später, als ihr keine Ausrede mehr einfiel, das komische Fleisch nicht essen zu müssen, lies sich Yewan neben ihr auf die Bank fallen und machte sich heißhungrig über das braune Fleisch her.

      „Schmeckt