„Gut, ich werde euch jetzt die Grundstellungen zeigen, ihr macht sie nach und versucht, sie zu halten, bis ich Stopp rufe.“ Wadne drehte sich mit dem Rücken zu ihnen und stellte sich, die Füße etwa schulterbreit voneinander entfernt, parallel und nach vorn gerichtet hin, die Knie leicht gebeugt und die Hände an den Oberschenkeln. „Haben das alle?“ Sie wandte sich ihnen wieder zu und ging durch die Reihen, um ihren Stand zu korrigieren.
„Die Füße parallel, Neolyt“, sagte sie, als sie zu ihr kam, dann stupste sie sie etwas an und nickte. „Ansonsten sehr schön.“
Neolyt hatte keine Ahnung, wie lange sie so stehen blieben, aber sie war es gewöhnt, geduckt zu warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, die Beute zu fassen. Schließlich begannen die ersten Knie zu zittern und Wadne erlöste sie.
„Das macht ihr wirklich gut“, erklärte sie und nickte zufrieden. „Als nächstes hätten wir die Grundstellung links, selbes Schema, ich mache es vor und ihr haltet.“ Wieder beugte sie leicht ihre Knie, setzte aber den linken Fuß einen Schritt nach vorn und drehte beide Fußspitzen nach außen, ihr Rücken war gerade durchgestreckt, aber etwas vorgebeugt. Sie hatte den Dolch in der rechten Hand etwa auf Kopfhöhe erhoben und die linke wie zur Abwehr mit dem Ellbogen nach vorn an ihrer Schläfe. So verharrten sie sicherlich zwei Minuten, bis Wadne ihnen das Zeichen zum Auflösen gaben.
„Als letztes gibt es noch die Grundstellung rechts, das ist dasselbe wie links, nur eben seitenverkehrt.“ Sie machte es kurz vor und ging abermals durch ihre Reihen.
Als sie die Starre diesmal lösen durften, hatten Neolyts Arme bereits angefangen zu schmerzen.
„Sehr schön. Aber es kommt ja nicht nur darauf an, die Grundstellungen halten zu können, ihr müsst auch aus ihnen heraus reagieren können. Ihr stellt euch jetzt in die Position, die ich ansage, und wenn ich Feind rufe, springt ihr hoch. Später werdet ihr daraus dann einen Angriff führen, aber springen sollte fürs Erste genügen. Gut, zuerst Grundstellung links!“
Alle stellten sich auf und warteten gespannt. Neolyt wusste, wie lange es dauern konnte, bis der Zeitpunkt günstig war, und wie geduldig man in einer solchen Situationen sein musste. Wenn man zu angespannt wartete, war die Geduld bald aufgebraucht. Schon im Alter von zwei Jahren hatte ihre Mutter sie in der Feinmethodik der Jagd unterwiesen, sie kannte die richtige Mischung aus Geduld und Aufmerksamkeit gut genug, um im richtigen Moment aufzuspringen, als Wadne laut „Feind!“ rief. Die meisten anderen waren zusammengezuckt, doch ein paar waren ebenfalls aufgesprungen. Augenblicklich machte Neolyt sich wieder klein. Sie hasste es, aufzufallen. Vor allem Menschen gegenüber. Immerhin wäre das bis vor Kurzem noch ihr Todesurteil gewesen.
Noch ungefähr fünf Mal ließ Wadne sie aus der rechten oder linken Grundstellung hochschnellen, mal wartete sie unendlich lang, mal kaum eine halbe Minute. Danach übten sie, auf Kommando die einzelnen Grundstellungen einzunehmen und den Dolch sowohl in der linken als auch in der rechten Hand zu führen, denn – wie Wadne es ihnen erklärt hatte – es war äußerst wichtig, dass man nie einseitig wurde, damit man bei einer Handverletzung nicht sofort kampfunfähig war.
Am nächsten Tag wurden sie äußerst früh am Morgen wieder in die Halle bestellt.
„Gewöhnt euch besser dran, eure Tage werden ab heute einen strengeren Ablauf haben als bisher“, begann Wadne. „Exakt fünf Stunden vor Mittag habt ihr euch hier einzufinden, dann absolviert ihr eine Stunde Krafttraining. Nach einer halben Stunde Pause findet ihr euch wieder bei euren Mentoren ein und werdet bis zum Mittagessen, welches eine Stunde nach Mittag stattfindet, in diversen Fächern unterrichtet werden. Danach habt ihr bis drei Stunden nach Mittag Zeit für eure Hausaufgaben und solltet euch dann unverzüglich wieder hier einfinden. Das Dolch- oder später Schwertkampftraining findet bis sechs Stunden nach Mittag statt und fünf Stunden vor Mitternacht gibt es Abendbrot. Der freie Tag in der Woche ist Samstag. Gibt es noch Fragen?“
„Bleibt das bis zum Ende der Ausbildung so?“, sprach ein Mädchen die Befürchtung aller aus.
„Nein, natürlich nicht. Sobald ihr euch für ein Profil entschieden habt, bekommt ihr neue Unterrichtspläne“, erklärte Wadne. Neolyt hatte zwar nicht im Entferntesten eine Ahnung, was ein Profil war, aber wenigstens würde nicht für immer jeder Tag wie der andere sein.
„Teilt euch jetzt bitte in Paare ein. Danach klären wir die einzelnen Stationen ab.“
Automatisch trat Neolyt einige Schritte zurück, um niemandem im Weg zu stehen, denn unter den anderen brach natürlich sofort ein kleiner Tumult aus. Vielleicht sollten Paare lieber von Anfang an festgelegt sein, überlegte sie, doch wer wusste, mit wem sie dann trainieren müsste.
Am Ende waren nur noch sie und der schmächtige Junge mit der Brille übrig. Das war gut, denn auch er war offenbar sehr wortkarg und sie hatte ohnehin keine Lust, mit besonders vielen Menschen zu reden. Am besten mit möglichst wenigen. Sie hatte ja schon mit Irla, Deor, Deas, Yewan, Wadne, Valria, Elly und … einer Menge anderen Menschen geredet. Da mussten es nicht zwingend noch mehr werden.
Die erste Übung war einfach und Neolyt verstand nicht, warum ausgerechnet sie damit anfangen sollten, bis er sich an der Übung versuchte.
„Es ist doch wirklich nicht schwierig, die Arme zu beugen und dann wieder zu strecken“, erklärte sie und sah ihm stirnrunzelnd dabei zu, wie er versuchte, sich vom Boden hochzustemmen.
„Ja, aber wenn da noch der ganze Körper mit daraufliegt, ist das deutlich schwieriger“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Das mag sein, aber es ist kein Grund, so zu tun, als sei man ein neugeborenes Rehkitz.“
„Wie bitte?“
„Ich habe gesagt, dass das sein kann, aber kein Grund dafür ist …“
„Ich meinte den Vergleich am Ende“, unterbrach er sie.
„Das Rehkitz? Ich finde das schon passend. Es sieht nämlich genauso aus, dich würde im Wald sicher kein Wolf anfallen.“ Sie hielt kurz inne. „Nein, sowieso nicht, du riechst ja nach Mensch.“
„Ich rieche nach Mensch? Natürlich rieche ich nach Mensch, ich bin ein Mensch, ebenso wie du.“ Die letzten Worte waren mehr Frage als Feststellung.
„Soll das heißen, du bist auch in Wirklichkeit ein Wolf?“, fragte Neolyt erfreut.
Der Junge setzte sich auf und sah sie interessiert an. „In Wirklichkeit ein Wolf?“
Neolyt lief rot an, als sie merkte, wie sehr sie sich verplappert hatte.
„Ich meine … Eigentlich … Jetzt mach schon die Liegestütze weiter.“
Doch der Junge rührte sich nicht.
„Unglaublich, eine äußerst interessante Genmutation. Ich bin übrigens Elnar.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und sie nahm sie zögernd.
„Neolyt“, entgegnete sie. „Und jetzt versuch wenigstens eine Liegestütze.“
Mit Elnar war es tatsächlich zum Heulen. Und damit war der wasserreiche, emotionale Ausbruch unter Menschen gemeint und nicht das äußerst effiziente Verständigungssystem der Wölfe. Es war nämlich so, dass er, sobald er einen Liegestütz geschafft hatte, der Meinung war, das würde reichen und sich bei keiner anderen Übung mehr Mühe gab. So hatte Neolyt alle Hände voll zu tun, ihn immer und immer wieder anzuspornen, doch noch wenigstens einen einzigen Klimmzug zu machen.
Schließlich machte er ihr ein paar Tage später in einer Trinkpause ein Angebot. „Na schön, ich werde mich ab heute anstrengen.“
Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Na großartig. Hast du endlich eingesehen, dass du nicht besonders lange ohne Muskeln wirst überleben können?“
„Vielen