„Wenn ich noch ein bisschen übe, kannst auch du sie lesen. Aber nur Übung macht den Meister und aller Anfang ist bekanntlich schwer.“ Yewan grinste übers ganze Gesicht, dann fiel sein Blick auf Neolyt und Neugier trat in seine Augen. Er stand auf und kam auf sie zu. Er musste mindestens drei Winter älter sein als sie und überragte sie um ungefähr anderthalb Köpfe.
„Ich bin Yewan“, erklärte er freundlich und streckte ihr die Hand entgegen.
„Neolyt“, entgegnete sie und schüttelte seine Hand.
„Sie wird jetzt auch meine Schülerin werden und vielleicht könnt ihr euch schon mal ein bisschen austauschen. Ich muss nur kurz schauen, wo noch ein Bett für sie frei ist. Bin gleich wieder da.“
Yewan grinste ihm hinterher und ließ sich wieder in den Sessel fallen.
„Das kann dauern. Setz dich doch.“ Er deutete auf den Sessel neben sich.
Neolyt ging hinüber. Sie versank so tief in dem weichen Polster, dass ihre Füße kaum noch den Boden berührten.
„Wie alt bist du?“, fragte der blonde Junge mit den blauen Augen. Er wirkte nett.
„Acht Winter. Und du?“
„Ich bin elf“, erwiderte Yewan ein wenig selbstzufrieden.
„Was machst du da?“, fragte sie und versuchte, einen Blick auf seine Notizen zu erhaschen.
„Ach, Hausaufgaben, die Deor mir aufgegeben hat. Er geht damit nicht gerade sparsam um.“ Abermals breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und Neolyt hatte das Gefühl, als wären seine Muskeln wie Gummis, die immer wieder in diese Position zurückkehrten. Aber das war gut so und deshalb grinste sie zurück.
„Seit wann unterrichtet dich Deor schon?“
„Weiß nicht genau, vielleicht ein reichliches Dreivierteljahr?“
Dann hatte Valria also vorhin von ihm gesprochen.
„Hat er noch andere Schüler?“
„Nicht mehr. Darain hat letztes Jahr die Prüfung abgelegt. Spitzenergebnisse, hab ich gehört.“ Er schnitt eine Grimasse und wirkte trotzdem noch nett. „Er war ein aufgeblasener Besserwisser“, stellte er fest. „Er wusste echt auf alle Fragen eine Antwort und jede freie Minute hat er hier rumgesessen und ein Buch nach dem anderen auswendig gelernt.“ In gespieltem Misstrauen kniff er die Augen zusammen. „Ich hoffe, du bist nicht auch so?“
Neolyt wurde wieder rot, eine nervige Angewohnheit ihres Gesichts.
„Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nichts über Drachen und Magie und so. Ich … ich kann noch nicht einmal lesen.“
Yewan legte ihr seine Hand auf die Schulter.
„Hey, das ist doch nicht schlimm. Ich konnte auch nicht lesen, als ich zu den Reitern kam, und es ist zwar eine sauschwere Sache, das zu lernen, aber Deas ist ein wirklich guter Lehrer.“ Er lächelte und diesmal war darin nichts Schelmisches zu sehen.
„Gut, aber selbst wenn ich lesen kann, glaub ich nicht, dass ich die ganzen Bücher hier auswendig lernen werde.“ Sie ließ ihren Blick über die vielen hohen Regale gleiten.
„Nee. Ich reite lieber durch den Wald oder übe zu kämpfen.“
Neolyts Augen leuchteten auf. „Man lernt hier auch, wie man reitet und kämpft?“, fragte sie neugierig.
„Na, zu reiten sowieso, es heißt ja nicht umsonst Drachenreiter und Einhornreiter. Aber richtig zu kämpfen lernen nur die mit genügend Magiepotenzial – und die müssen sich dann auch noch dafür entscheiden, Kämpfer zu werden“, erklärte er ihr.
„Was gibt es denn sonst noch?“
„Na, du kannst zum Beispiel Heiler werden, vielleicht auch Forscher oder Experimenteller, wie sie sagen. Oder man könnte, wenn man tatsächlich nichts Besseres zu tun hat, in die Räte gehen. Und natürlich gibt’s noch die Leute vom Handel, die haben ein bisschen weniger Potenzial, und am wenigsten haben die ganz einfachen Leute, die Schmiede und Bauern und so. Die sind von einem Einhorn oder Drachen ausgewählt worden und haben meistens Reiter als Eltern, sonst wären sie gar nicht zu uns gekommen. Und sie kriegen natürlich auch nicht so eine großartige Ausbildung. Aber wir dürfen auf jeden Fall zwischen Kämpfer und Heiler wählen. Und Ratssprecher“, setzte er hinzu, das Gesicht wieder zu einer Grimasse verzogen.
„Was ist das? Ein Ratssprecher?“
„Na … also das sind die Leute, die die wichtigen Entscheidungen zu fällen haben, die für die Staatskasse verantwortlich sind und so …“, antwortete er ihr ein bisschen unbestimmt.
„Was hast du gegen sie?“
„Viele von ihnen machen ziemlich viel Mist, vor allem die Hochräte. Das sind die mit viel Einfluss und Macht. Und wenn jemand Neues mit tollen, neuen Ideen kommt, um sie abzulösen, bleibt ihm trotz allem nichts anderes übrig, als den alten Mist weiterzumachen, weil sie schon so tief drinstecken, dass kein Weg zurückführt. Und so geht es immer weiter. Wenigstens haben wir keine absolute Monarchie mehr.“
„Und das ist gut?“
„Ja. Obwohl wir es leider noch immer nicht zu einer Demokratie geschafft haben.“
Neolyt verstand nicht ein Wort.
„Und warum gehst du nicht in die Räte und versuchst, das durchzusetzen?“
Doch die Antwort blieb Yewan erspart, da in diesem Augenblick Deor wieder auftauchte.
„Na, worüber redet ihr gerade?“
„Ratsprobleme“, erklärte Yewan mit einem stolzen Unterton.
„Seit wann interessierst du dich dafür?“
„Tu ich gar nicht. Und genau darüber reden wir.“
„Gut …“, erklärte Deor, für einen Moment aus dem Konzept gebracht. „Neolyt, ich habe ein Zimmer für dich gefunden und es werden auch schon passende Sachen für dich bereitgelegt. Und Yewan, ich gebe dir den Nachmittag frei, unter der Bedingung, dass du keinen Unsinn anstellst.“
„Würde ich nie tun“, beteuerte Yewan und zwinkerte Neolyt zu.
„Du kommst nach dem Mittagessen bitte wieder hier hoch, Neolyt.“
Sie nickte. „Wo ist mein Zimmer?“, fiel ihr dann noch ein zu fragen.
„Lora wird es dir zeigen. Sie wartet draußen vor der Bibliothek“, antwortete Deor und bedeutete ihr, dass sie gehen durfte.
Vor der Bibliothek stand eine kleine, pummelige Frau mit einem netten rosa Gesicht und neben ihr blinzelte ein ebenfalls etwas pummeliges, hellbraunes Fasteinhorn neugierig durch die Mähnenfransen.
„Du musst Neolyt sein, nicht wahr?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Ich bin Lora, aber das hat Meister Deor dir sicher schon gesagt. Ich bin so etwas wie die Betreuerin für die weiblichen Schülerinnen, ich wasche eure Sachen, mache eure Zimmer sauber, aber das ist kein Grund, sie absichtlich einzusauen.“ Sie holte kurz Luft und dann ging es auch schon weiter. Wie ein Wasserfall redete sie unaufhörlich auf Neolyt ein und machte nur Pausen, um Luft zu holen, und egal über wen oder was sie sprach, die ganze Zeit lächelte ihr pausbäckiges Gesicht. Neolyt fragte sich allmählich, ob wohl alle Reiter die Angewohnheit hatten, ununterbrochen zu grinsen oder zu lächeln.
Als sie in dem Korridor mit den Mädchenzimmern vor der Nummer 17 angelangt waren, hatte Neolyt eine Menge Dinge über andere Leute erfahren, die sie nicht verstand, sie nicht interessierten und sie alle miteinander sehr wenig angingen. Lora zückte einen Schlüsselbund, den Neolyt neugierig beäugte – schlaue Sache, immer ein Schlüssel für eine Tür –, und schloss einen kleinen Raum mit drei Betten, drei