Denise sagte, Du wolltest mit mir über die Versammlung heute Abend reden. Ich kann mir vorstellen, was Du mit mir besprechen willst.
Ich habe viel nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass es nicht schaden würde, die anderen über den Verlauf der Reise zu unterrichten. Ich werde mich dabei ausschließlich auf die sachlichen, wichtigen und nützlichen Fakten konzentrieren und beispielsweise den Streit zwischen James und mir nicht erwähnen.
Ich wusste, was er noch damit sagen wollte. Er würde nicht erwähnen, dass er mit mir zusammen gewesen war, dass da neben dem Streit noch anderes Unwichtige existierte.
Eigentlich war ich froh darüber, doch da war auch ein leiser Zweifel. Konnte womöglich eine Anspielung auf das, was zwischen Atlas und mir gewesen war, Mädchen wie Lexi davon abhalten, Atlas zu bezirzen?
Ich schüttelte, zornig über meine Gedanken, den Kopf und richtete meine Konzentration wieder auf Atlas’ geschriebene Worte.
Zudem denke ich, dass es auffälliger wäre, wenn wir nichts erzählen würden, als wenn wir allen das Recht eingestünden, über die Geschehnisse, die auch sie betreffen, in Kenntnis gesetzt zu werden. Was den Spion betrifft – ich wüsste nicht, welche Aspekte meines Berichts ihm neu sein sollten. Ich bin sicher, dass wir nicht befürchten müssen, uns durch das Weitergeben von Informationen selbst ein Bein zu stellen. Wenn wir Glück haben, dürfte es sogar helfen, wenn ich alle über die Anwesenheit eines oder mehrerer feindlicher Spione informiere. So werden sie zum einen vorsichtiger sein mit dem, was sie sagen, zum anderen können mehr Augen auch mehr Hinweise auf die Identität des oder der Verräter liefern.
Über den Ausgang der Reise, den Kampf um das »Herz der Zeit« und seinen jetzigen Aufenthaltsort werde ich selbstverständlich kein Wort verlieren.
Ich hoffe, Du hast ein sicheres Versteck gefunden (ich gehe nicht weiter auf sein Aussehen oder anderes ein, eine Vorsichtsmaßnahme, da man in Situationen wie diesen niemandem trauen kann).
Deinen schlechten Gesundheitszustand, den Denise und Charlotte mir beschrieben haben, bedauere ich sehr. Ich wünsche Dir schnelle Genesung.
Atlas
PS: Bitte vernichte diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast, damit der Spion dadurch keine Informationen erhalten kann.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich weinte, bis ich vor lauter Tränen die geschwungene, schnörkelige Schrift nur noch als verschwommenen blauen Fleck erkennen konnte. Die Worte, die dort standen, waren stumpf und gestelzt. Atlas hatte jedes Gefühl daraus gelöscht, und die Hoffnung, ein Stück von ihm in diesem Brief zu finden, endete in bodenloser Enttäuschung.
Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und kratzte genug Konzentration zusammen, um einen kleinen Blitz aus meinen Augen auf das Papier abzufeuern. Leise knisternd verbrannte der Brief in meinen Händen. Der kleine Magizismus würde hoffentlich niemandem schaden.
Als ich auf die verbrannten Reste schaute, stiegen wieder Tränen in mir auf. Das Zimmer verschwand in einem brennenden Strudel, und mein leer gefegter Kopf ließ mich in einem schmerzenden Loch zurück.
»Die Nuvolas finde ich am faszinierendsten, wie sie nur aus Luft zu bestehen scheinen und dennoch nahezu wie wir sind. Danke für die Fotos übrigens. Ich hatte das Warten auf ein Mitbringsel schon fast aufgegeben.« Rose deutete auf ihre Jackentasche, in der sich die beiden Nuvolafotos befanden, die ich aus der zerstörten Wohnsiedlung mitgenommen und ihr als kleines Geschenk überlassen hatte. Sie hielt ihre linke Hand mit dem frischen rosa-grün gestreiften Nagellack hoch und pustete über die feucht glänzende Fläche.
Ich drehte mich wieder zum Fenster des Krankensaals, an dem ich stand, und beobachtete, wie eine Gruppe Nebelwesen unter James’ Führung über die Wiese lief.
Das Eintreffen der verschiedenen Schleifenwesen zu beobachten, war ein angenehmer Zeitvertreib, mit Rose’ Kommentaren noch besser.
Ein kleines Mädchen, dessen kurze, knallrote Haare bis hier oben gut zu erkennen waren, stieß zu James und den Nuvolas und löste ihn ab.
»Tess taucht wie üblich auf und nimmt James die Gruppe ab. Er sieht ziemlich mitgenommen aus«, beschrieb ich für Rose das Geschehen.
»Geschieht ihm recht«, meinte sie ohne jeglichen Anflug von Mitleid.
Ich schnaubte und verfolgte die Gruppe weiter. Sie waren auf dem Weg zur Südwiese, auf die inzwischen ein gemütlich wirkendes Backsteingebäude, dessen Aussehen wohl auf antiken Vorbildern beruhte, mit Hilfe von Magie, gebaut worden war. Dort waren die Nuvolas mit diversen anderen Schleifenwesen bis zum Kampftag untergebracht. Eine Gruppe von Augenschönen, darunter auch Tess, das rothaarige Mädchen, kümmerte sich um die Schleifenwesen mit allem, was dazugehörte – vom Empfang und der Einweisung bis hin zu Verpflegung und Unterstützung beim Kampftraining.
»Am unheimlichsten sind mir die Morsanimas«, fuhr Rose fort. »Die halb schwebenden Gestalten in den langen Umhängen, du erinnerst dich? Dass man bei der Kommunikation mit ihnen ihre Stimmen nur im Kopf hört, ist bereits skurril genug, aber kennst du auch die Legende, die sich um sie rankt?« Sie blickte auf, um sich abzusichern, dass ich ihr wirklich zuhörte.
Das tat ich, während mein Blick zwischen ihr und dem Fenster hin- und herhuschte.
»Weißt du, was ihr Name bedeutet? Es ist eine Zusammensetzung aus Tod und Seele. Es heißt, in ihnen würden die menschlichen Seelen verweilen, während sie auf das Weiterrücken in das Reich der Toten warten. Gruselig, oder?«
»Hmmhmm.« Ich sah erneut aus dem Fenster. Tess war mit den Nuvolas inzwischen Richtung Südwiese verschwunden, und James stand kurz still da, während er ihnen hinterhersah. Wenige Augenblicke später nahm er seine müde gebeugten Schultern zurück, richtete sich auf und ging zügigen Schrittes auf den Hof zu. Instinktiv duckte ich mich, als sein Blick über die Fenster des Verwaltungsgebäudes strich, obwohl er mich durch die Spiegelung der frühen Wintersonne ohnehin nicht hätte sehen können.
Mit Unbehagen dachte ich an unser erstes Zusammentreffen seit unserer Rückkehr. Am Abend zuvor war ich mit Rose draußen gewesen. Sie hatte mir das neue Gelände auf der Südwiese gezeigt, und dabei waren wir auf James getroffen. Ich war seltsam befangen gewesen und hatte seine freundschaftliche Umarmung nur halbherzig erwidert. Ohne es zu wollen, erinnerte ich mich an seine grimmige Miene, als er während unserer Reise gesagt hatte, er würde nicht aufgeben und erreichen, dass ich ihn liebte und mit ihm zusammenkam. Gleichzeitig fiel mir ein, dass er ebenso wenig wie alle anderen, außer Rose natürlich, über Atlas und mich Bescheid wusste.
Das restliche Gespräch über war das Unwohlsein nicht von mir gewichen, und ich war froh gewesen, als Rose mich endlich zurück zum Verwaltungsgebäude begleitet hatte. Ich hatte mich durchaus gefreut, ihn wiederzusehen. Die Reise hatte uns, ohne dass ich es gewollt hatte, für immer verbunden. Ich hatte damals nicht gelogen, als ich ihm gesagt hatte, er sei wie ein Bruder für mich, und ich würde ihn ebenso lieben. Doch das Jahr, das wir dann ohne ihn verbracht hatten, stand jetzt irgendwie zwischen uns und ließ mich befangen mit ihm umgehen.
»Die Flugwichtel sind einfach nur nervig, ebenso wie die Erdgnome, ihre flügellosen Verwandten. Wozu sollen die beim Kampf überhaupt gut sein? Wahrscheinlich freuen sie sich auf die Gelegenheit, dass wir alle abgelenkt sind und sie sich ungestört an unserem Hab und Gut zu schaffen machen können.« Mit spitzen Fingern schloss Rose das Nagellackfläschchen und pustete abschließend ein letztes Mal auf ihre Nägel. »Komm, lass uns eine Runde an die frische Luft gehen, um ordentlich unsere Köpfe durchpusten zu lassen. Mir fällt in diesem Krankenzimmer langsam die Decke auf den Kopf.«
Da konnte ich ihr nicht widersprechen, mir ging es ja genauso. So befanden wir uns keine fünf Minuten später, warm eingepackt, ich hatte deutlich mehr Schichten an als Rose, auf dem Weg durch das Verwaltungsgebäude nach draußen. Sobald wir aus der Tür traten, schlug uns beißende Kälte entgegen, und ein eisiger Wind rüttelte an uns, als wollte er uns deutlich zeigen, dass der milde Herbst endgültig vorbei war.
Ich