Damals hatte ich die bis dahin schlimmsten Stunden gerade erst hinter mir. Ich hatte versehentlich meine Schwester getötet, mein Zuhause und meine Familie verloren. Vollkommen verwirrt und überfordert von den neuen Eindrücken und dem ständigen Strom an Informationen, die ich durch das Wissensgift erhalten hatte, das mir Tatjana verabreicht hatte, hatte ich mich bemüht, mich hier bei den Augenschönen einzuleben. Dieser Ort war mir wie eine Art Abklatsch des Paradieses vorgekommen, in das man nach seinem Tod wohl kommen sollte. Jedenfalls, wenn man all jenen glaubte, die einem das nach einem ehrlich und schuldlos geführten Leben versprachen. Nach Evies Tod, für den ich verantwortlich gewesen war, war ich mir aber nicht mehr so sicher, ob das auch für mich zutraf.
Jedenfalls hatte ich die Schönheit dieses Ortes gespürt, gerochen, gehört und geschmeckt, hatte sie für eine ewig andauernde Schönheit gehalten. Wie bei fast allem offenbarte sich erst jetzt, über ein Jahr später, für mich die zweite, dunkle Seite der Schleife, die aus einem gewöhnlichen Winter mit eisiger Kälte und all den Unannehmlichkeiten bestand, die man hier mit einer unbekannten Krankheit eben so hatte. Es stellte sich heraus, dass der Anschein eines Paradieses genauso oberflächlich und aufgesetzt gewesen war wie meine gespielte Fröhlichkeit oder die unechte Gleichgültigkeit seit Atlas’ Trennungsworten.
Ich schüttelte die unschönen Gedanken ab und lief mit Rose weiter über den vertraut knirschenden Kies des Hofes. Auf der gegenüberliegenden Seite huschte eine Gruppe von Gestalten entlang, die auch in dem durch die Wolken gedämpften, schwachen Sonnenlicht noch leicht glitzerten.
»Sieh mal, Rose, eine Gruppe Glimmergillians.«
Rose folgte meinem Blick und sah die letzten Reste Geglitzer, bevor die Gruppe hinter dem Wohnhaus 3 verschwand, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihrer eigenen Unterkunft.
»Die gehen mir langsam auf die Nerven.« Rose rümpfte die Nase.
Ich sah sie grinsend an. »Oooh … wird da jemand etwa fremdenfeindlich?«
»Red keinen Unsinn. Generell habe ich nichts gegen all diese Schleifenwesen. Es ist super, dass sie uns beim Kampf gegen die Nächtlichen Geschöpfe helfen, obwohl ich immer noch glaube, dass beim Großteil von ihnen Eigennutz und der eigene Gewinn eine größere Rolle spielen als ihre Hilfsbereitschaft uns gegenüber.«
»Das kannst du ihnen kaum vorwerfen. Wer möchte denn, bitte, nicht friedlich leben?«
»Ich werfe es ihnen ja auch gar nicht vor, ich wollte doch etwas ganz anderes sagen. Die meisten von ihnen sind schließlich ziemlich okay. Allen voran die Nuvolas. Aber zum Beispiel diese Glimmergillians … Findest du sie nicht auch leicht bizarr?« Meine Freundin verzog das Gesicht.
»Warum sollte ich?«
»Sieh sie dir doch einmal an. Sie sind ja wirklich hübsch, keine Frage. Ihre elfenhaften Glieder, die fortwährende Eleganz bei jeder Bewegung und das Glitzern ihrer Haut im Licht … allerdings wissen sie das selbst nur zu gut. Wusstest du, dass sie nie ohne mindestens einen Spiegel unterwegs sind, in dem sie sich betrachten können? Wenn sie keinen dabeihätten, wäre das in etwa so, als wenn wir keine Kleidung am Leib hätten, wenn wir draußen herumlaufen. Sie erinnern mich an diesen einen Jungen aus den Griechischen Sagen … Narziss. Der hat sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Echt verrückt.« Sie seufzte. »Und außerdem besteht diese Spezies nur aus Männern.«
»Also nicht fremdenfeindlich, sondern männerfeindlich?«, zog ich sie auf, doch sie ignorierte mich.
»Stell dir vor, sie entstehen aus dem verloren gegangenen Sonnenlicht in tiefen Wäldern. Deswegen brauchen sie auch keine Frauen, um sich fortzupflanzen. Und das Sonnenlicht ist mit ihrer Haut verwoben, sodass sie immerzu glitzern und von innen heraus glimmen.«
»Ehrlich, Rose, höre ich da so etwas wie Eifersucht heraus? Du gehörst zu der am schönsten, makellosesten und perfektesten aussehenden Art überhaupt und regst dich darüber auf, dass deine Haut nicht glitzert und du nicht leuchtest? Du bist viel oberflächlicher, als ich immer dachte.«
Rose stieß mich spielerisch in die Seite. »Es tut mir leid, dass du es nicht früher gemerkt hast. Dann würde es nicht so überraschend kommen, wenn ich dir sage, dass ich mit dir nur befreundet bin, weil du von Anfang an so unglaublich gut aussahst.«
Ich schaute sie gespielt erschrocken an, bevor wir beide in heilloses Gekicher ausbrachen, das mir für kurze Zeit Atemnot bescherte. Trotzdem tat es auch unglaublich gut, wieder so befreit mit meiner besten Freundin lachen zu können. Es schien die Last, die schwer schmerzend auf meinem Herzen lag, ein klein wenig leichter zu machen.
Wunderbar erfrischt, mit neuer Energie und besserer Laune kehrten wir nach einer ausgiebigen Runde um den Hof und an den Rändern des Südwestwaldes entlang zurück zum Verwaltungsgebäude. Meine Beine waren müde von der kurzen Strecke, doch ich wollte noch nicht, dass unser kleiner Ausflug schon vorbei war.
»Können wir noch kurz beim Duschraum vorbeischauen? Ich glaube, ich habe heute früh mein Handtuch dort liegen lassen«, sagte ich deswegen.
Es stimmte sogar, doch der eigentliche Grund war, dass die Duschräume einen weiteren Schlenker auf dem Weg zurück zum Krankensaal bedeuteten, da sie sich in einem anderen Flügel des Gebäudes befanden.
Natürlich war Rose einverstanden. Also stiefelten wir langsam die breiten Treppen, Gänge und Flure entlang, vorbei an den großen Fenstern und bunten Gemälden, die die Wände schmückten.
Ein wenig erinnerte mich das an meinen ersten Tag hier, als Rose für mich noch ein fremdes, durch ihre bunten Nägel und ihre durchgeknallte Art etwas verrückt wirkendes, aber sympathisches Mädchen gewesen war. Dass sich hinter der tollen äußeren Schale auch noch ein kluger Kopf und ein ehrliches Herz befanden und sie einmal meine beste Freundin werden würde, wusste ich damals ja noch nicht.
Wir tratschten auf dem Weg in die Duschräume über Belanglosigkeiten, aber als ich die Tür öffnete, erinnerte ich mich an das Gefühl, das ich am Morgen gehabt hatte. Es war seltsam gewesen, wieder hier zu sein. Einen der ersten Räume, den ich hier zu Gesicht bekommen hatte, erneut zu betreten und all die Erinnerungen aufleben zu lassen. Damals hatte ich gedacht, ich wüsste, was das Wort Herzschmerz bedeutete. Wie dumm ich doch gewesen war!
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zurückzudrängen, und folgte Rose hastig in den gekachelten Raum.
Mein Handtuch hing über der Wand der dritten Kabine, in der ich geduscht hatte, was mich eigentlich bereits stutzig hätte machen müssen. Hatte ich es heute Morgen nicht auf dem Tischchen am Eingang liegen lassen?
Rose schnappte es sich und drehte sich mir zu, grinste über einen Witz, für den ich nicht aufmerksam genug gewesen war. Sie tänzelte an mir vorbei zur Tür, öffnete sie und trat zur Seite. Ich wandte mich gerade zum Gehen, als ich etwas aus dem Augenwinkel sah.
Einen dunklen Fleck am Boden.
Einen kleinen Makel in einer sonst fehlerlosen Kulisse.
Rose, die mein Zögern bemerkte, sah mich fragend an. Ich nickte in Richtung des Flecks auf dem Boden. Mit zusammengezogenen Augenbrauen ließ sie die Tür los und ging darauf zu. Ich folgte ihr, und je näher wir kamen, desto mehr bestätigte sich meine schreckliche Vermutung. Und als wir knapp vor dem Fleck standen, nah genug, um zu sehen, dass um den großen länglichen Fleck auch viele kleine Spritzer waren, und Rose entsetzt die Luft einzog, erkannte auch ich endgültig, was ich bereits geahnt hatte.
Hier im hinteren Teil des Duschraums, etwas versteckt, so, dass man es nicht gleich entdeckte, zog sich eine breite, rote, dickflüssige Lache über den Boden.
Blut.
Die