Eine Schale Getreide verändert die Welt. Magnus MacFarlane-Barrow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Magnus MacFarlane-Barrow
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783702236076
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von einigen Ärzten untersucht. Ich machte mir klar, dass seit dem Fall von Srebrenica erst zehn Tage vergangen waren: zehn Tage, seit diese Frauen und Kinder, die hier abgemagert und von der Sonne verbrannt vor ihren Zelten saßen, mit ansehen mussten, wie ihre Ehemänner, Söhne und Väter kaltblütig ermordet wurden – und noch viele andere Gräueltaten mehr. Zehn Tage, in denen sie in Todesangst durch die Wälder gelaufen waren. Auf dem Weg hatte sich mindestens eine von ihnen, die einundzwanzigjährige Ferida Osmanovic, an einem Baum mit ihrem Schal erhängt. Und während sie das alles durchmachten, hatte ich herumgejammert, weil ich nicht genug Schlaf und Essen bekam.

      Unsere Begleiter auf der Hinreise fuhren über dieselben Straßen zurück, auf denen wir gekommen waren. Julie und ich beschlossen, uns auf das Wagnis eines Flugs mit einem Militärhubschrauber einzulassen – eine Möglichkeit, von der uns die Norweger erzählt hatten. Man riet uns, zu einer nahe gelegenen Landestelle zu fahren und dort auf den Hubschrauber zu warten. Am ersten Tag kam er nicht. Die Soldaten, die mit uns warteten, klärten uns auf, das läge daran, dass keine nüchternen Piloten aufzutreiben waren. Ich hatte natürlich gedacht, dass sie Witze machten, doch als der riesige Hubschrauber am nächsten Tag dann endlich landete, war die ukrainische Belegschaft, die ausstieg, um die Fracht abzuladen, tatsächlich eindeutig sehr betrunken.

      Unsere norwegischen Freunde hatten uns informiert, dass keiner ohne schusssichere Weste mitfliegen dürfe. Wir hatten aber nichts dergleichen. Einem freundlichen UNO-Beobachter, der ebenfalls auf eine Mitfluggelegenheit zurück nach Split wartete, erklärten wir das Problem, und er überließ uns freundlicherweise ein paar blaue Postsäcke: Er meinte, sie sähen von Form und Farbe her genauso aus wie die üblichen kugelsicheren Westen. „Nehmt sie einfach in die Hand, wenn ihr einsteigt, die Crew wird nichts merken“, riet er uns.

      Er hatte recht. Als wir in den riesigen, höhlenartigen Frachtraum des Hubschraubers einstiegen, glotzten uns die Männer von der Besatzung mit leerem, betrunkenem Grinsen und wässrigen Augen an, und mir wurde klar, dass wir wahrscheinlich irgendetwas in der Hand hätten halten können oder auch gar nichts – aufgefallen wäre es ihnen nicht. Das Monster verschluckte uns wie damals der Wal den Propheten Jona, und dann hob es ab. Wir wurden in dem riesigen Metallfass hin und her geschleudert, denn die Piloten flogen „taktisch“ – also grässlich tief –, sie blieben nah an den Bergflanken oder schwenkten im Zickzackkurs von einer Seite des Tals zur anderen. Wahrscheinlich war das nötig, um das Risiko zu verringern, abgeschossen zu werden, aber ich fragte mich schon auch, wie viel einfach nur auf Trunkenheit am Steuerknüppel zurückzuführen war. Jedenfalls wünschte ich insgeheim, wir hätten beschlossen, ebenfalls über die Waldstraßen zurückzufahren. Aber irgendwann landeten wir dann doch sicher in Split und fanden Mary, unseren riesigen Truck, die treu und brav darauf wartete, uns heimbringen zu dürfen. Wir hätten sie umarmt, wenn unsere Arme lang genug gewesen wären.

       II.

      Eine Frau, bekleidet mit der Sonne

      Es ist unehrlich, an etwas zu glauben und nicht entsprechend zu leben.

       (Mahatma Gandhi)

      Unsere ganze Kindheit über und auch noch später war der Fluss Orchy eigentlich immer unser Freund, vor allem an Tagen wie diesen, wenn er aufgrund unaufhörlicher Regenfälle und Hochwasser führender Zuflüsse so anstieg, dass er die einzige Zufahrtsstraße zu unserem Anwesen überflutete. Es war für uns immer richtig aufregend, wenn der Fluss drohte, über seine Ufer zu treten und uns vom Rest von Dalmally abzuschneiden. Vor allem dann, wenn das bedeutete, dass wir einen Tag lang nicht in die Schule mussten. Wir nutzten den Fluss in unserer Kindheit zu jeder Jahreszeit als Wasserspielplatz. An warmen Sommertagen trugen wir unser Schlauchboot nach Corryghoil hinauf, einer ruhigeren Wasserstelle mit Sandstrand, wo wir im kühlen tiefen Wasser schwammen. Manchmal lud Dad das kleine Boot auch auf den Anhänger seines Geländewagens und brachte es ein Stück weiter das Tal hinauf, dann ließen wir uns über Wasserfälle und unter überhängenden Ästen hindurch den ganzen Weg bis zur alten Steinbrücke treiben. Manchmal war der Fluss im Winter dick zugefroren, und wir konnten uns mit unseren Freunden, die auf der anderen Seite lebten, auf dem Eis treffen, in unseren Turnschuhen „eislaufen“ oder mit unseren Shinty-Stöcken und einem Stein als Puck „Eishockey“ spielen. Im Herbst verbrachten wir viele Stunden damit, Lachse zu fangen, die sich zu ihrem Laichplatz den Strom hinaufarbeiteten. Auch wenn es lang dauerte, bis man einen fing, so lohnte es sich doch zu warten – wir kamen dann strahlend mit einem köstlichen silbernen Fisch nach Hause und konnten aufregende Geschichten darüber erzählen, wie wir ihn gefangen hatten.

      Doch an jenem Spätherbsttag im Jahr 1983 machten wir uns ernsthaft Sorgen, als wir beobachteten, wie das Wasser auf den Feldern unterhalb unseres Hauses immer höher stieg, und wir bemerkten, dass unsere Nachbarn Alasdair und Donald ihre Schafe höher hinauf trieben, denn am nächsten Morgen sollten wir unseren sehnlichst erwarteten Flug nach Jugoslawien erreichen. Schon lang bevor wir zu unserer Nachtfahrt zum Heathrow Airport aufbrechen mussten, war der Fluss über die Ufer getreten und die Straße unter einem unpassierbaren reißenden Sturzbach verschwunden. Aber da eröffnete uns Dad, dass er vorgesorgt hatte: Er hatte unser Auto schon früher jenseits der Stelle geparkt, die jetzt überflutet war, und war dann zu Fuß zurückgekommen. Er drückte uns Taschenlampen in die Hand und wies uns an, den matschigen Pfad am Hang oberhalb der überfluteten Straße entlangzugehen. Das Abenteuer, das unser Leben verändern sollte, begann also mit einem Gang durch Dunkelheit und strömenden Regen, knöcheltief im Schlamm, mit unserem Gepäck auf dem Rücken, und wir mussten darüber lachen, dass unser Dad immer einen Schritt vorausdachte.

      Alles hatte wenige Wochen zuvor begonnen. Wir saßen nach dem Frühstück um den Küchentisch. Ruth, meine Schwester, die gerade ihre Universitätsferien zu Hause verbrachte, schaute von ihrer Zeitung hoch und sagte: „Schaut euch das an! Hier heißt es, es gäbe Berichte, dass die Jungfrau Maria ein paar Teenagern in einem Ort namens Medjugorje in Jugoslawien erschienen ist!“ Eine aufgeregte Diskussion folgte. Wir waren eine fromme katholische Familie und kannten berühmte Orte wie Lourdes, wo die Gottesmutter vor langer Zeit erschienen war. Im Jahr zuvor hatten wir sogar an einer Familienwallfahrt zum Marienheiligtum im portugiesischen Fatima teilgenommen. Aber dass die Muttergottes heute, in unserer Zeit, erscheinen sollte, war etwas, das wir uns überhaupt nicht vorstellen konnten.

      „Mum, wenn es auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit gibt, dass das stimmt, dann müssen wir hin!“, bettelten wir. Unsere Eltern erklärten uns, sie könnten zu den bevorstehenden Weihnachtsfeiertagen nicht weg, weil in unserem Gästehaus viel zu tun war (unser Haus war eine traditionelle Unterkunft für Jäger und Fischer). Wir hörten nicht auf zu betteln, und zu unserem Entzücken schlugen sie schließlich vor, dass wir doch allein fahren sollten. Ruth und ihr Freund Ken waren schon neunzehn, mein Bruder Fergus und ich waren sechzehn beziehungsweise fünfzehn. Zwischen diesem Gespräch beim Frühstück und dem Tag der Flut fanden wir heraus, dass das Dorf Medjugorje in der Nähe der Stadt Mostar lag, aber wo genau, das konnten wir auf der Karte nicht sehen. Wir hatten auch keine Ahnung, wie wir vom Flughafen Dubrovnik dorthin kommen sollten oder wo wir während unseres Aufenthaltes wohnen würden. „Das gehört zu einem Abenteuer dazu“, dachten wir – und einige unserer Cousins und Cousinen sowie einige befreundete Studienkollegen von Ruth und Ken, die gefragt hatten, ob sie sich uns anschließen könnten, waren derselben Meinung. So kam es dann schließlich, dass wir als Gruppe von zehn Leuten – einige von der Hüfte abwärts reichlich verdreckt – in das Flugzeug von Heathrow nach Dubrovnik stiegen.

      In der umwerfend schönen Stadt Dubrovnik mit ihrer alten Stadtmauer, direkt an der glitzernd blauen Adria gelegen, gelang es uns, eine Unterkunft bei einem Mann zu finden, der lediglich einen einzigen englischen Satz beherrschte – wahrscheinlich hatte er ihn beim Anschauen amerikanischer Filme gelernt. „Take it easy, sonofabitch!“, rief er mit einem breiten Lächeln als Antwort auf jede Frage, die wir ihm stellten. Wir nahmen an, dass seine Pension illegal war, ein kleines privates Unternehmen, das es in diesem kommunistischen Land eigentlich gar nicht geben durfte.

      Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass über die Feiertage keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als einige Autos zu mieteten, um unseren Zielort