Mehrere Monate lang hatten wir die verstörenden Ereignisse in Srebrenica genau verfolgt. Srebrenica, eine muslimische Stadt in einer von Serben kontrollierten Region Bosnien-Herzegowinas, war mittlerweile von feindlichen Streitkräften umzingelt und völlig überbevölkert. Wie andere Städte in ähnlicher Lage war es von der UNO zu einem „sicheren Hafen“ erklärt worden: Die Organisation versprach, für die Sicherheit aller zu sorgen, die hier Zuflucht suchten. Im Juli 1995 drängten sich an diesem Ort, der zuvor lediglich eine kleine, in einem Tal gelegene Stadt gewesen war, 30.000 Muslime. Jedes Gebäude war überfüllt, und Tausende mussten im Freien schlafen. Monate vergingen, viele verhungerten; aber noch mehr Menschen wurden von Granaten aus den die Stadt umgebenden Bergen getötet.
Und während die Welt ungläubig und entsetzt zuschaute, drangen schließlich die serbischen Soldaten in die Stadt ein. Die vierhundert niederländischen UNO-Soldaten ergaben sich, ohne auch nur einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Die Serben selektierten sämtliche muslimische Männer in kampffähigem Alter, führten sie in eine leerstehende Fabrik und ermordeten innerhalb von zwei Tagen 8000 von ihnen. Die meisten Frauen (viele, nachdem sie vergewaltigt worden waren) und Kinder wurden laufen gelassen und flohen in die Wälder. Die Mehrheit schlug sich nach Tuzla durch, die nächste größere Stadt, wo auf einem alten Flugplatz mit Zelten ein behelfsmäßiges Auffanglager aufgebaut wurde. All das geschah vor den Augen der ganzen Welt. Wir wurden durch regelmäßige Berichte auf dem Laufenden gehalten.
Außer meiner Wut auf die Serben spürte ich jetzt einen brennenden Zorn auf die UNO und unsere Regierung, die es zugelassen hatten, dass sich diese kalt geplanten Abscheulichkeiten an einem Ort ereigneten, den sie die Stirn hatten, einen „sicheren Hafen“ zu nennen. Ich empfand tiefe Scham.
Unmittelbar nach diesen Ereignissen flossen die Spendengaben reichlicher als je zuvor, sowohl von einer empörten Öffentlichkeit als auch von Lebensmittelfirmen, die uns palettenweise Mehl, Zucker, Konserven und vieles mehr anboten. Wir machten uns also in unserem neuen LKW mit riesiger kostbarer Fracht auf den Weg nach Tuzla, um all das den Frauen und Kindern zu bringen, die dort kürzlich eingetroffen waren – keine einfache Aufgabe, denn der einzige Weg in diese Stadt führte mitten durch Bosnien-Herzegowina, wo immer noch der Krieg tobte. Wir wussten, dass wir mit unserem Truck auf den Bergstraßen, über die wir fahren mussten, nicht weiterkommen würden, daher ließen wir uns darauf ein, mit einer anderen Wohltätigkeitsorganisation aus England zusammenzuarbeiten, die kleinere Lastwagen einsetzte, um Hilfsgüter nach Bosnien-Herzegowina zu bringen.
In der kroatischen Stadt Split trafen wir mit ihnen zusammen, und in einer größeren Industrieanlage verluden wir bei sengender Hitze unsere Sachen in ihre fünf Lastwagen. Nach einem höchst willkommenen kurzen Bad in der Adria machten wir uns in Richtung Norden auf den Weg, Julie und ich jetzt jeweils als Beifahrer in den kleineren LKWs unserer neuen Kollegen. Am zweiten Tag der Tour ließen wir die Asphaltstraße hinter uns und fuhren auf sichereren Wegen in den Wald. Für mich fühlte sich das vertraut an – so ähnlich wie die Straßen in Schottland, auf denen ich als Teenager fahren gelernt hatte. Und auch die Landschaft um uns herum wirkte vertraut, obwohl die Berge etwas höher und zerklüfteter waren als die in Argyll. Bald aber musste ich feststellen, dass diese Lastwagen im Unterschied zu den Landrovern und Pickups, an die ich gewöhnt war, keinen Vierradantrieb hatten und für dieses Terrain denkbar ungeeignet waren. Die Straßen wurden holpriger und steiler. Die Räder drehten durch, und allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen.
Meine Sorgen hingen nicht nur mit den ungeeigneten Fahrzeugen zusammen, sondern damit, dass in dem neuen Team, zu dem wir jetzt gehörten, einige offenbar mehr am Nervenkitzel als an der sicheren Auslieferung der Hilfsgüter interessiert waren. Nördlich der Stadt Mostar hatten wir in der Ferne Granatendetonationen gehört. Ich war entsetzt, als ich hörte, dass einer unserer Mitfahrer vorschlug, eine Strecke zu nehmen, die näher an der Stelle vorbeiführte, wo noch Rauch aufstieg, damit wir „sehen können, was da passiert“. Offenbar waren einige ganz wild darauf, Soldat zu spielen. Wenn wir an UNO-Stützpunkten Halt machten, um uns über sichere Routen zu informieren, überredeten einige unserer Mitfahrer die Soldaten, ihnen ihre Maschinengewehre zu leihen, mit denen sie sich dann fotografieren ließen. Zum ersten Mal verstand ich, warum größere Hilfsorganisationen die Anstrengungen kleinerer Einrichtungen häufig als dilettantisch und gefährlich einstufen.
Als wir uns neben der Reihe unserer geparkten Trucks zum Schlafen einrichteten, besprachen Julie und ich leise unsere Sorgen bezüglich der Zusammenarbeit mit diesen Leuten, aber uns war völlig klar, dass wir jetzt, wo wir in einem Teil von Zentral-Bosnien-Herzegowina angekommen waren, den wir beide nicht kannten, keine andere Wahl hatten, als mit ihnen bis Tuzla weiterzufahren. Außerdem mussten wir ja all den Spendern zu Hause sagen können, dass ihre Gaben sicher angekommen waren.
Als ich in meinen Schlafsack schlüpfte, hatte ich schlechte Laune. Unsere Kollegen hatten nicht einmal etwas Anständiges für uns zum Essen mitgenommen, und hungrig schlafen gehen zu müssen hatte bei mir unweigerlich zur Folge, dass ich mir fürchterlich leidtat. Mitten in der Nacht wachten wir auf, weil ein Rudel wilder Hunde über uns hinwegjagte. Es war ein total merkwürdiges Gefühl. Sie flitzten – offenbar ohne jegliches Interesse an uns – über unsere Schlafsäcke hinweg und verschwanden in der pechschwarzen Nacht. Ich fragte mich, was wohl ihren Besitzern zugestoßen war und wovor sie davonliefen oder wohin sie rannten.
Am nächsten Tag verschlechterte sich der Straßenzustand noch weiter. Die stärkeren Fahrzeuge zogen jetzt andere die steilsten Abhänge hinauf, und wir kamen nur noch quälend langsam voran. Zu unserer Sicherheit mussten wir unbedingt vor Einbruch der Nacht in Tuzla ankommen, doch das wurde immer unwahrscheinlicher. Der Nachmittag rückte vor, immer öfter mussten wir anhalten, um Reifenpannen zu beheben, und so langsam befürchtete ich, dass einige der Fahrzeuge bald gar nicht mehr reparierbar sein würden. Und als es allmählich Abend wurde, begann der dichte Wald, der sich zu beiden Seiten der Straße erstreckte, einen entschieden unheimlichen Eindruck zu machen.
Als die Situation richtig trostlos aussah, kam ein Konvoi norwegischer Gelände-Trucks angefahren. Die freundlichen Fahrer – Zivilisten, die mit Leuten von der UNO zusammenarbeiteten – sahen, dass wir in einer ganz misslichen Lage waren, sie hielten an und fragten, ob sie helfen könnten. Sie waren so freundlich, nicht über uns zu lachen, und sagten, sie würden bis zu ihrem Stützpunkt in Tuzla bei uns bleiben und uns abschleppen, wann immer wir ihre Hilfe brauchten. Mit unseren unerwarteten „Schutzengeln“, die uns hinter sich herzogen, kamen wir jetzt stetig voran. Und als wir schließlich um drei Uhr morgens den UNO-Stützpunkt erreichten, fielen wir praktisch sofort in einen erschöpften Schlaf – allerdings hatte Julie vorher noch die Gelegenheit, mir aufgekratzt mitzuteilen, dass sie auf dem letzten Abschnitt unserer Reise durch die Nacht einen der riesigen Gelände-Trucks gefahren habe. Sie erzählte davon in einem Ton, als sei gerade ihr größter Lebenstraum in Erfüllung gegangen. In mir stieg der Verdacht auf, dass sie womöglich ein bisschen verrückt ist.
Am nächsten Morgen wurden wir nach Tuzla in die Stadt gefahren und von einem dankbaren, aber erschöpft wirkenden Bürgermeister empfangen. Wir waren froh, unsere kostbare Fracht – Tausende Schachteln mit Trockennahrung, Seife und Windeln – in eine kleine behelfsmäßige Lagerhalle ausladen zu können, von wo sie in überschaubaren Mengen zu den Flüchtlingen auf dem Flugfeld in der Nähe gebracht werden konnte.
Später suchten wir selbst das riesige Lager auf, in dem jetzt 30.000 Menschen lebten. Wir gingen einen Fußweg zwischen den Zelten entlang. Ein Mädchen versuchte, sich die Haare in einem Eimer zu waschen, und in der Nähe saß eine ältere